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Eine Messe für die Jugend

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In dem Buch „A Composer's World“ schrieb Paul Hindemith, daß vor Beginn des Schöpfungsprozesses die „Vision“ stehe, eine Vorstellung von dem gesamten zu schaffenden Kunstwerk, das der Komponist dann im Detail auszuführen und seiner Vision so gut wie möglich anzunähern hätte. Leonard Bernsteins „Vision“ mag so ausgesehen haben: eine große Bühne mit Scheinwerfern und Verstärkeranlagen, darauf Solisten und Chöre, Schauspieler und Tänzer, Rock-Gruppen und Schlagwerkensembles, dunkel-strenge geistliehe Kostüme neben orientalisch-bunten, Alltagsgewänder und Hippy-Klei-dung. Und zugleich mag er das Bedürfnis gehabt haben, seinen Glauben zu bezeugen, seine Religiosität, die alle Bekenntnisse umfaßt: seinen Glauben an den Glauben.

Hiefür schien ihm die römisch-katholische Messe, als Skelett und Gerüst, am geeignetsten. Aber, so definiert er: „Mass ist keine Messe im Sinne eines kirchlichen Gottesdienstes. Mass ist ein Stück Theater. Mass handelt davon, was in den Menschen vorgeht, wenn sie einer Messe beiwohnen“. Er hätte vielleicht sagen sollen: was in jungen Menschen vorgehen kann, die vielleicht zufällig eine Messe besuchen ... Bernstein hat nämlich, durch eigene Texte und solche von Stephen Schwartz, die Liturgie dramatisiert, indem er immer wieder Gegenstimmen, Gegenmeinungen, ja Protest und Revolte zu Wort kommen läßt. Es stehen sich gegenüber: der Zele-brant, der die Rolle des Priesters spielt, und die Menge, das Volk verkörpernd, verkörpern das „Credo“ und das „Non credo“, wie es ja auch Reinhold Schneider einmal formuliert hat: „Der Glaube gebiert den Zweifel — und der Zweifel den Glauben“. Auch daß kurz vor dem versöhnlichen Schlußchoral der Ze-lebrant zusammenbricht und auch seine Geräte zerbricht, ist seit Graham Greene nicht neu.

Bernstein kleidet diese seine Gedanken in die Form eines großen musikalischen und szenischen Spec-taculums, das inzwischen/ja oft beschrieben wurde und von dessen Dekor unser Bild eine Vorstellung gibt. Seine Musik bringt zwar viele Reminiszenzen, von Beethoven und Mahler bis Strawinsky, Orff und Gershwin, entbehrt aber doch der eigenen Note nicht. Daß er einem ziemlich bedenkenlosen Eklektizismus huldigen würde, war ebenso sicher vorauszusehen, wie daß Bernsteins Messe etwas anderes ist als das, was wir bisher gewohnt waren. Aber schließlich: wenn Palestrina und Bach, wenn Beethoven und Schubert, wenn Hindemith und Strawinsky Messen schrieben, so wurde ja auch jedesmal etwas anderes daraus ...

Ausführende des eine Stunde und 45 Minuten dauernden Werkes waren Sänger, Tänzer, Schauspieler und Solisten der Universität Yale sowie deren Symphonieorchester. Den großen Chor stellte die Singakademie, den Knabenchor das BG XXI. Unter der Regie von James Shaffer, mit der Choreographie Nora Petersons, mit Kostümen von William Long und in den Bühnenbildern Enno Poerschs erlebten wir eine fesselnde Aufführung, deren Spiritus rector der ausgezeichnete John Mauceri am Dirigentenpult war. Die Jugend auf dem Podium, im Orchester und im Saal hatte keine Verständigungsschwierigkeiten. Alle Ausführenden, an der Spitze Michael Hume als Ze-lebrant, wurden stürmisch gefeiert. Dem Wiener Konzerthaus kann man zu dem kühnen Unternehmen, an dem 280 Ausführende und ein zwei Dutzend Personen umfassender Produktionsstab beteiligt waren, ebenso gratulieren, wie zu den fünf ausverkauften Aufführungen. Wer wagt, gewinnt! Auch erwies der Große Konzerthaussaal sichsowohlräumlich wie akustisch als ideal für dieses multimediale Werk. Und der Komponist soll von der Aufführung und dem Rahmen so angetan gewesen sein, daß er bald wiederzukommen versprach.

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