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Es hat seit 1945 kaum ein zweites internationales Problem gegeben, an dessen Entwicklung die europäische Öffentlichkeit so sehr Anteil genommen hat wie die Europäische Wirtschaftsintegration.

Da war zunächst der Vertrag von Rom, ein internationales Vertragsinstrument, dessen Kompliziertheit und Vielfältigkeit von kaum einem anderen internationalen Traktat bisher erreicht wurde, und obwohl es sich um einen umfangreichen und komplizierten Vertrag handelte, wurden seine Kritiker nicht müde, ständig seine Undurchführbarkeit und Unzweckmäßigkeit mit lautem Geschrei nachzuweisen. Trotzdem behielten alle die recht, die dieser EWG nicht nur eine entsprechende Lebensfähigkeit, sondern Erfolge voraussagten, die heute die rational errechenbaren Zahlen bei weitem bereits überholt haben.

Dann war da die EFTA, als das gewissermaßen illegitime Kind der EWG geboren, weil die zwischen 1956 und 1958 laufenden Verhandlungen um eine große europäische Freihandelszone scheiterten. Die Gegner einer umfassenden Europäischen Wirtschaftsintegration wollten in der EFTA gewissermaßen eine Gegenorganisation zur EWG sehen.

Alle europäischen Staaten bekannten sich aber schließlich zur Idee des Großwirtschaftsraumes in irgendeiner Form, was schließlich zu dem heutigen Zustand führte, in dem es keinen europäischen, nichtsozialistischen Staat mehr gibt, der nicht der EWG oder der EFTA angehört.

Die Frage, warum es nach langjährigen Versuchen nun endlich gelungen ist, das Erweiterungsproblem zu lösen, oder, um es konkreter zu sagen, warum Frankreich nun seinen Widerstand gegen einen Beitritt Großbritanniens aufgegeben hat, kann authentisch natürlich nur am Quai d’Orsay beantwortet werden. Aber man wird wahrscheinlich nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß folgende zwei Ursachen vorliegen:

Wie allgemein erinnerlich ist, argumentierte die französische Seite mit der — echt französischen — Formulierung, daß man grundsätzlich natürlich nichts gegen eine Erweiterung der EWG habe, jedoch vor einer Erweiterung der Sechsergemeinschaft der Vertrag von Rom voll erfüllt sein müsse. Diesem Argument konnte man eine gewisse Sachlichkeit nicht absprechen, denn selbstverständlich konnte niemand mit Sicherheit Voraussagen, wie sich zunächst die Übergangsphase und nach ihrer vorzeitigen Beendigung die weitere Entwicklung der EWG zeigen. werde. Nun, der Vertrag von Rom ist heute zur Gänze erfüllt!

Der zweite Grund liegt wohl auf rein politischem Gebiet. Die Entwicklung der bundesdeutschen Wirtschaft hat ein Ausmaß angenommen, das ihr in der gegenwärtigen EWG eine unbestreitbare Dominanz zusichert. Die westdeutsche Wirtschaft ist so stark geworden, daß der wirtschaftliche Einflußbereich der Bundesrepublik in der EWG nicht nur der relativ stärkste geworden ist; von der westdeutschen Wirtschaftspolitik hängt heute schon in hohem Maße die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten EWG ab. Daß eine solche Entwicklung den Franzosen zu denken gegeben hat, liegt auf der Hand. Wenn nun die EWG um die vier Beitrittskandidaten Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Irland erweitert wird, so verlagert sich das politische Gewicht innerhalb der EWG auch auf London, und man wird wohl mit Recht annehmen können, daß die Europäischen Gemeinschaften unter der Führung des Dreigespanns Großbritannien, Frankreich und Bundesrepublik Deutschland stehen werden. Die ‘alte Politik des europäischen Gleichgewichts wird sich den Europäern in neuem Gewände präsentieren.

Hinsichtlich der neutralen Staaten liegt nun ein konkreter Vorschlag seitens der EWG-Kommission vor, demzufolge mit diesen Staaten eine Freihandelszone gegründet werden soll, die sich aber nur auf den Warenverkehr mit industriellen Gütern (und allenfalls Rohstoffen) beschränkt. Das wirft für diese Staaten und besonders für Österreich eine ganze Reihe von Problemen ‘auf. Das wichtigste davon ist der Ausschluß unserer Landwirtschaft von einer echten Teilnahme am Gemeinsamen Markt. Ob daraus in Österreich politische Schwierigkeiten entstehen werden, läßt sich noch nicht Voraussagen, aber immerhin besteht die Tatsache, daß es auch die österreichische Landwirtschaft war, die sich bisher mit Recht sehr integrationsfreudig zeigte. Daß die Landwirtschaft bei einer Freihandelszonenlösung ausgeschlossen ist, liegt nun leider in der Natur der Sache. Mit landwirtschaftlichen Produkten kann man keine Freihandelszone schaffen, ohne die Agrarmarktordnungen zu harmonisieren. Anders ausgedrückt heißt dies, daß eine Voraussetzung für eine echte Integrationsteilnahme der österreichischen Landwirtschaft die Harmonisierung der österreichischen Agrarmarktordnung mit jener der EWG ist. Deshalb habe ich ja auch immer den Vorschlag gemacht, daß Österreich als eine der Vorbereitungen für seine Integrationsteilnahme die österreichische Agrarmarktordnung mit jener der EWG harmonisieren müsse; ein Vorgang, der im übrigen auch ohne jeden Vertrag in autonomer Weise hätte vollzogen werden können.

Ein anderes Problem, das sich stellt, ist das der Wettbewerbsverzerrungen, die auch im industriellen Sektor innerhalb einer Freihandelszone entstehen. Die Abschaffung der Zölle zwischen Österreich und der EWG allein bedeutet noch nicht die Beseitigung der Differenzen in den Produktionskosten, ganz abgesehen davon, daß die unterschiedlichen Besteuerungen schon an sich zu oft sehr bedeutenden Verschiedenheiten in den Produktionskosten führen.

Da die Vorstellungen der Brüsseler Kommission nur einen Zollabbau für Industrieprodukte enthalten, jedoch keinerlei Möglichkeiten irgendeiner Mitwirkung der neutralen Staaten an den wirtschafitspolitischen Entschlüssen der EWG vorsehen, Ist auch zu befürchten, daß es allein die neutralen Staaten sein werden, die alle Probleme zu lösen haben, die sich naturgemäß aus einem gemeinsamen Zollbereich ergeben.

Daß man es auch im System einer Freihandelszone anders machen kann, haben die seinerzeitigen österreichischen Verhandlungen mit Brüssel bewiesen, nach denen eine gemeinsame paritätische Kommission vorgesehen war, die sich mit den laufend auftretenden Problemen zu befassen gehabt hätte und wo, wenn schon in keiner anderen Form, so in der gegenseitigen Konsultation, doch eine Mitwirkungsmöglichkeit Österreichs garantiert gewesen wäre, während Österreich nun mit allen diesen Problemen allein fertig werden muß.

Es ist gewiß ein gar nicht zu unterschätzender Fortschritt, daß sich die EWG nun doch endlich auch zur Möglichkeit einer Freihandelszonenkonstruktion mit den drei neutralen Staaten bekennt. Wenn man daran denkt, daß man das Wort „Freihandelszone“ bisher in Brüssel gar nicht aussprechen durfte, wenn man nicht als unseriös angesehen werden wollte, so wird man diesen Fortschritt in seiner ganzen Bedeutung richtig einschätzen. Anderseits ist das „Verdienst“ der EWG-Seite nicht besonders groß. Eine Wirtschaftsgemeinschaft, die zehn Staaten umfaßt, kann es sich ohne jede Sorge leisten, ein handelspolitisches System anzuerkennen, das im Vergleich zu den sonstigen Wirtschaftstheorien und -Praktiken von Brüssel als mit Recht systemwidrig bezeichnet werden muß. Aber gerade darin liegt nun die Enttäuschung über eine notwendige, aber leider mangelnde Großzügigkeit der EWG, die es sich in ihrer neuen Form und Größe wohl auch leisten könnte, den drei neutralen Staaten eine stärkere und damit bessere Position einzuräumen, als dies nun geschehen soll. Daher hat man auch von Schweizer Seite auf das Brüsseler Angebot in der Form reagiert, daß man es als eine „gute Grundlage für Verhandlungen“ bezeichnet. Es ist auch für Österreich geboten, diesen Standpunkt einzunehmen.

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß eine nur auf Industrieprodukte beschränkte Freihandelszone keine endgültige Integrationslösung für Österreich darstellt, sondern als wichtiger, wohl aber nur erster Schrit zu einer echten österreichischen Integrationsteilnahme bezeichnet werden kann. Gewiß wird man das akzeptieren müssen, wenn im Augenblick nicht mehr herauszuholen ist. Verfehlt wäre es — man kann das nicht oft genug betonen —, das für eine endgültige oder gar restlos befriedigende Lösung für Österreich zu halten. Dies rechtzeitig ‘anzumelden, ist sehr wichtig, damit man sich immer wieder auf einen solchen Vorbehalt berufen kann.

Österreich kann mit der Beseitigung der Industriezölle gegenüber der EWG dieser keine Endfertigungsklausel einräumen; dies nicht nur wegen der ungelösten Agrarfrage, sondern auch weil sich in gar nicht ferner Zeit die aus einer solchen Freihandelszonenlösung kommenden Probleme stellen werden.

So stehen wir also wohl am Ende einer Phase. Die Zeit des wirtschaftlich geteilten Europa ist zu Ende und das wirtschaftlich vereinigte Europa beginnt. Das ist Grund genug zur Freude für alle, die europäisch denken. Aber die Summe dessen, was dabei vorläufig als ungelöst betrachtet werden muß, ist groß genug, um uns zur klaren, eindeutigen Vertretung unserer Interessen anzuhalten.

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