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Eine Moral mit Ablaufdatum

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Der Schock über verdorbene Lebensmittel in den Tiefkühltruhen großer Handelsketten ebbt ab, die Schuldigen waren schnell identifiziert. Die Frage ist: Hat es genügt, die Nasen zu rümpfen und in gepfefferten Kommentaren den Rücktritt des zuständigen Ministers zu fordern? Wird es genügen, auf den „heilsamen Schock der Aufdeckung”, auf schärfere Kontrollen und Gesetze zu vertrauen?

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Der Schock über verdorbene Lebensmittel in den Tiefkühltruhen großer Handelsketten ebbt ab, die Schuldigen waren schnell identifiziert. Die Frage ist: Hat es genügt, die Nasen zu rümpfen und in gepfefferten Kommentaren den Rücktritt des zuständigen Ministers zu fordern? Wird es genügen, auf den „heilsamen Schock der Aufdeckung”, auf schärfere Kontrollen und Gesetze zu vertrauen?

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Als bekannt wurde, daß in Tiroler Handelsketten schwere Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften seit langem an der Tagesordnung sind, sprach Bundesminister Michael Ausserwinkler von „verbrecherischen Methoden”. Das klang, als sei er von dem, was da berichtet wurde, regelrecht erschüttert. Als sich allerdings herausstellte, daß der Gesundheits- und Konsumentenschutzmi-nister schon seit mehr als einem dreiviertel Jahr über die Mißstände Bescheid gewußt hat, erschien seine moralische Entrüstung in einem etwas anderen Licht.

Wenige Tage später schob Ausserwinkler seinem Kabinettskollegen Wolfgang Schüssel (VP) die Schuld in die Schuhe: Auf Betreiben der Wirtschaft habe dieser die Bestimmungen über die Kennzeichnung der Lebensmittel „verwässert”. Schließlich gab es noch ein Hin und Her darüber, ob die eigentliche Schuld nicht bei den Ländern liege. Diese hätten nämlich schon in den siebziger Jahren eine rigide Überprüfung durch die Bundesanstalt für Lebensmitteluntersuchung abgeblockt.

Und dann stellte sich noch sukzessive heraus, daß aus den Kühltruhen nicht nur Fleisch und Würste stinken, sondern auch Fisch und Geflügel. In den anderen Bundesländern ebenso wie im diesbezüglich unheiligen Land Tirol.

Die moralischen Zeigefingerheber waren gleich schnell bei der Hand mit der Identifikation der Schuldigen, heißen sie nun Jörg Haider oder Thomas Chorherr: Österreich sei eine „Fleischrepublik” mit einem ähnlich unwürdigen System wie man es aus „Bananenrepubliken” kennt, ätzte etwa der,.Presse”-Chefredakteur.

Es stimmt schon: Gepfefferte Kommentare sind angebracht, wenn verdorbenes oder fast verdorbenes Fleisch umetikettiert oder -damit der Verbraucher den zweifelhaften Geruch oder Geschmack nicht merkt - stark gewürzt wird und wenn die (politisch) Verantwortlichen das längst gewußt haben. Aber genügt es, sich nur beim Haltet-den-Dieb-Spiel zwischen Ministern und Landesbehörden, zwischen Kabinettsmitglieder oder beim wieder einmal jovial über den Dingen stehenden Bundeskanzler aufzuhalten?

Nötigung der Mitarbeiter

Zunächst einmal: es gibt offenbar eine Menge von Handelsangestellten, die genötigt wurden, dieses „verbrecherische” Spiel mitzumachen. Supermarktbedienstete, die die „Gustostückerln” zu Cevapclä umfunktionierten oder ganz einfach Etiketten austauschten, waren nicht im Zweifel, was da lief. Sie befanden sich aber offenbar in einer Situation, die man im im Krieg mit dem Etikett „Befehlsnotstand” versieht: Anweisung von oben... Es wird aber gehorcht, wenn verlangt wird, daß man zu betrügen hat. (Wenn auch vielleicht mit zusammengebissenen Zähnen.)

Unter Druck standen auch die Filialleiter: Supermärkte leben davon, daß sie pro Quadratmeter Ladenfläche und Angestellten ein Maximum an Umsatz erzielen. Das erlaubt, zu Preisen anzubieten, die die Greißler reihenweise zum Zusperren trieben. Allerdings stehen die „Großen” jetzt selbst im Verdrängungswettbewerb. Alles wird getan, um Kunden das Gefühl zu geben, hier billiger und besser einzukaufen als anderswo. Wenn es dabei zum „Warenstau” kommt, wissen sich die Filialleiter offensichtlich nicht anders zu helfen, als der Kaufbereitschaft der Kunden entsprechend nachzuhelfen; notfalls mit betrügerischer Manipulation der Ware.

Wer setzt Filialleiter unter Druck?

Offen bleibt dabei die Frage, wer hat womit die Filialleiter so unter Druck gesetzt, daß sie nicht nur die Kunden betrogen, sondern auch noch deren Gesundheit gefährdet und die Angestellten in Gewissensnöte gebracht haben? Gibt es da noch „Schreibtischtäter”?

Daß zunächst einmal die Sprecher der Handelsketten auf Anfrage sagten, sie wüßten, daß da bei der Konkurrenz etwas faul sei, wirkt nicht sonderlich vertrauenserweckend.

Genau hier liegt das Problem, nämlich bei der Frage: Wie ist es denn bestellt um Vertrauenswürdigkeit und Seriosität im österreichischen Wirtschaftsleben?

Immer mehr Menschen regen sich darüber auf, daß viele Wirtschaftszweige nicht mehr nach dem Motto „Ehrlich währt am längsten” wirtschaften können oder wollen. Wer etwa als Gebrauchwagenhändler überleben will, „muß” förmlich den Kilometerzähler der angebotenen Wagen zurückdrehen. Wenn eh die Versicherung zahlt, „muß” förmlich die Reparatur teurer sein und so weiter...

Den Wettbewerb durchzuhalten, ist schwer. Das sagt jeder Unternehmer, der sich gegenüber scharfer Konkurrenz behaupten muß. Wettbewerb ist das überlegene Instrument des Ausgleichs von Angebot und Nachfrage, sagen die Ökonomen. Allerdings geht es dabei um „Leistungswettbewerb”, das heißt darum, mit positven Qualitäten eines Angebots „besser zu sein”. Wer aber lügt, fälscht oder alle möglichen hinterhältigen Dinge macht, um den Anschein eines besonders günstigen Angebotes zu erwecken, macht sich der Unlauterkeit schuldig. Er pervertiert den freien Wettbewerb. Wohin das führt, ist klar: Letztendlich herrschen nur mehr die Gesetze des Dschungels. Jeder betrügt jeden, wo er nur kann. Und das gilt dann als „Erfolg”.

Diesen Zusammenhang beschrieb nicht etwa ein Moralphilosoph, sondern Wilhelm Röpke, der Chefideologe der freien Marktwirtschaft. Und seit Adam Smith ist bekannt, daß die Marktwirtschaft nicht nur dank der Marktmechanismen funkioniert. Sie lebt von Grundhaltungen, die von außen in das Wirtschaftsleben eingebracht werden.

Das Problem ist nur, daß sich moralische Standards wie Redlichkeit oder Ehrlichkeit nicht selbst reproduzieren. Werden sie vernachlässigt, laufen sie sozusagen ab. Wer aber Lauterkeit nie gelernt hat, wird sie auch im Konkurrenzkampf nicht praktizieren.

Und offensichtlich finden immer mehr Menschen nichts dabei, wenn sie abends zusammenrechnen können, wie viele sie tagsüber wieder beschwindelt und betrogen haben. Nicht anders sind die Daten zu deuten, die zu Jahresbeginn für einen Aufschrei sorgten: Laut Berechnungen des Innenministeriums gehen jährlich rund 170 Milliarden Schilling durch Steuerhinterziehung, Pfusch, Versicherungsbetrug, ungerechtfertigten Bezug von Sozialleistungen, Ladendiebstähle und ähnliches verloren. Unrechtsbewußtsein? Aber nein. Getan wird doch nur, was andere auch tun.

Der „Fleischskandal” ist also in Wirklichkeit nicht nur das Problem der Fleischverpak-kungsetiketten, der Ministerverantwortlichkeit oder der fehlenden Kontrolle. Es ist das Problem des schwindenden Vertrauens in allen Bereichen der Gesellschaft: zwischen Verkäufern und Käufern, Wählern und Politikern, zwischen Arbeitskollegen und zwischen Ehepartnern. Vielleicht auch zwischen Journalisten und Zeitungslesern...?

Läuft hier eine Epoche ab? Wovon wird dann die Gesellschaft morgen leben?

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