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Eine Mutter kehrt heim

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Als er sich der Straßenbahn- , haltestelle näherte, sah er sie schon von weitem: die etwas irri- tiert wirkende alte Frau auf dem gegenüberliegenden Gehsteig, die unsicheren Schritts auf die Tafel zuging, auf der die Informationen über Haltestelle und Abfahrtszei- ten zu lesen waren, und angestrengt durch ihre dicken Brillengläser blickte, um zu entziffern, was hier geschrieben stand.

Der Passant auf der gegenüber- liegenden Seite der Straße war nahe daran, die Frau anzusprechen und zu fragen, ob er ihr irgendwie hel- fenkönne. Doch er kam nicht dazu, denn sie kam ihm schon entgegen. Besser gesagt, sie machte einen ver- geblichen Versuch, dies zu tun. Die spindeldürren Beine des alten Weib- leins wollten und wollten nicht. Die acht Zentimeter zwischen dem Gehsteig und der Straße schienen eine schier unüberwindliche Di- stanz zu sein.

„Bitte, können Sie mir sagen, wohin diese Straßenbahn fährt?" begann sie. Er konnte. „Sie müssen entschuldigen, aber ich sehe schlecht und kenne mich nicht aus. Wenn ich das alles gewußt hätte, dann hätte ich mir die Fahrt nach Wien nicht zugemutet."

Die alte Frau machte einen ärm- lichen Eindruck. In der einen Hand hatte sie einen Plastikbeutel mit ein paar Habseligkeiten und ein kleines Handtäschchen mit Zipp- verschluß, mit der anderen Hand umklammerte sie ihren Gehstock. Der hilfsbereite junge Mann reich- te der hilfsbedürftigen alten Frau seinen Arm und führte sie über die Straße. Sie sei vom Westbahnhof gekommen, sagte sie. Sie hatte gehofft, ihr Sohn werde sie abho- len. Aber der Sohn hatte leider keine Zeit.

„Wissen Sie, mein Sohn hat ein Möbelgeschäft, um das er sich kümmern muß. Ein Möbelgeschäft in der Nähe des Westbahnhofs. Nun werde ich eben allein zur Wohnung meines Sohns fahren." Die Woh- nung ihres Sohns sei im zweiten Bezirk, nicht weit weg vom Prater- stem, sagte die Mutter des Möbel- händlers. Sie war nicht sicher, ob sie den Weg allein finden würde. „Wissen Sie, es hat sich alles so verändert, seit ich das letzte Mal in Wien war. Das ist nicht mehr das Wien, das ich gekannt habe, und außerdem habe ich schon so viel vergessen..." Und wiederum sagte sie, was sie dem hilfsbereiten Pas- santen gleich anfangs mitgeteilt hatte: „Wenn ich das alles schon vorher gewußt hätte, hätte ich mir die Reise nach Wien nicht zugemu- tet."

Während des einigermaßen zeit- aufwendigen Manövers, die alte Frau über die Straße zu bringen, war die inzwischen eingetroffene Straßenbahn längst weg.

Von London sei sie gekommen, sagte die Frau. Mit dem Zug. Schon über dreißig Jahre sei sie nicht mehr in Wien gewesen. Und als sie gestern ankam, habe sie vor lauter Aufregung einen Schlagan- fall erlitten, sagte sie, darum sei sie im Moment nicht gut beisam- men.

Die Münze, die sie in der Hand hielt, reichte nicht für die Fahrkar- te, die sie sich kaufen wollte. Der hilfsbereite junge Mann gab der alten Frau einen Fahrschein und versprach ihr mehrmals - denn sie hatte ihn kurz hintereinander ein paar Mal um das gleiche gebeten -, ihr beim Einsteigen behiflich zu sein. „Die Stufen sind leider so hoch und die Türen gehen so schnell zu!"

Nun warteten die beiden gemein- sam auf den nächsten Straßenbahn- zug. Wieder sprach die Frau von ihrem Sohn, dem Inhaber eines Möbelgeschäfts. „Ich habe gehofft, daß er mich abholen wird, aber er hat leider keine Zeit."

Es war kein Ton des Vorwurfs in ihrer Stimme. Daß ihrem Sohn das Geschäft wichtiger war als die alte Mutter, erschien ihr ganz normal. Es war für sie wie ein Fall von höherer Gewalt, wie ein Naturer- eignis, dem man sich einfach zu fügen hatte. Gewiß, sie bedauerte, daß ihr Sohn keine Zeit hatte. Aber sie bedauerte es nicht anders, als man bedauert, daß es leider regnet, während man sich die ganze Zeit auf schönes Wetter gefreut hat.

Die Straßenbahn ließ auf sich warten. Aber die.gebrechli- che alte Frau zeigte keine Spur von Ungeduld. Sie sprach ein leicht eng- lisch gefärbtes Wienerisch. Man meflete, daß ihr die deutsche Mut- tersprache in den Jahren und Jahr- zehnten, die sie in England gelebt hatte, nur selten über die Lippen gekommen war. Als sie der Mann fragte, ob sie sich denn an der Endstelle der Straßenbahn beim Praterstern wohl zurechtfinden werde, antwortet sie: „Ich hoffe so."

Nach all dem, was sie bisher über sich erzählt hatte, hätte sie eine Jüdin sein können, die 1938 aus Wien emigrieren mußte und die dann nach dem Krieg aus diesem oder jenem Grund nicht mehr nach Österreich zurückgekommen war. Aber so war es nicht. Sie sei keine richtige Wienerin, sagte sie. „Ei- gentlich komme ich vom Land. In der Gegend um Mistelbach bin ich aufgewachsen."

Die Mutter des Möbelhändlers kam nicht mehr dazu, Genaueres über ihre Vergangenheit zu erzäh- len, denn nun war es endlich so weit: die Straßenbahn kam. Der hilfsbereite junge Mann drückte auf den Einsteigeknopf, die Türe öff- nete sich, und die alte Frau klam- merte sich beherzt an den Halte- griff. Den Gehstock hatte sie unter den Arm geklemmt, die beiden Taschen hatte sie ihrem Helfer anvertraut - aber bis sie ihren Fuß von der Straße abheben und auf die Einsteigstufe der Straßenbahn hinaufhieven konnte, ging die au- tomatische Tür wieder zu. Er- schreckt wich die Frau zurück.

„Das macht nichts", erklärte der hilfsbereite junge Mann. Selbstver- ständlich hatte er sofort wieder den Knopf gedrückt. „Sie brauchen keine Angst zu haben, wir haben Zeit, wir schaffen das schon!" Aber bis die Frau begriff, daß die Tür nun wieder offen war, und sie sich entschloß, ihren zweiten Einstei- geversuch zu starten, ging die Tür, deren Lichtschranke kein Hindernis ortete, abermals zu. Wiederum wich die Frau entsetzt zurück.

Der junge Mann mit seinem Opti- mismus war offenkundig widerlegt. Trotzdem wagte er zu sagen: „Kommen Sie nur, das geht schon:" Denn nun hatte er sich seinerseits zu einem kühnen Eingriff in den Gang der Ereignisse entschlossen: er hinderte die Tür durch Brachial- gewalt am automatischen Zugehen. Reglos war die Frau vor der offenen Tür stehen geblieben, ohne einen neuen Einsteigeversuch zu unter- nehmen. Bange und voller Mißtrau- en blickte sie auf die tückischen Falttüren, die sie immer dann, wenn das anstrengende Manöver beinahe schon von Erfolg gekrönt war, auf unberechenbare Weise in die Zan- ge zu nehmen drohten.

Als sich die Mutter des Möbel- händlers aber nach geraumer Zeit schließlich doch davon überzeugt zu haben schien, daß die Tür dies- mal offen blieb, klammerte sie sich wieder an den Haltegriff und ver- suchte, ihr Bein hochzuziehen. Aber sei es, daß sie keinen Mut mehr hatte, oder sei es, daß sie alle ihr zur Verfügung stehende Kraft bereits aufgebraucht hatte: es gelang ihr nicht.

Die Verkehrsampel vor der Straßenbahn, die erst Grün und dann Rot angezeigt hatte, stand wieder auf Grün. Das rechte Bein der alten Frau schlenkerte hilflos in der Luft, ohne Halt zu finden. Die Köpfe der Leute in der Stra- ßenbahn drehten sich nach dem seltsamen Paar, und der Fahrer, der schon die ganze Zeit die Szene im Rückspiegel mitverfolgt hatte, war bereits drauf und dran, auszu- steigen und seinerseits zielführen- de Maßnahmen zu ergreifen.

Der hilfsbereite junge Mann pack- te den Fuß der alten Frau und stell- te ihn auf das Trittbrett. Es half nichts. Sie konnte das andere Bein nicht nachziehen. Da sah der Hel- fer keinen anderen Ausweg mehr, als die kaum mehr als fünfzig Kilo schwere Mutter des Möbelhändlers kurzerhand an der Hüfte zu fassen und in die Straßenbahn hineinzu- stemmen. Er tat es und hoffte, daß sie infolge dieser überraschenden und in keiner Weise angekündigten Maßnahme nicht lauthals loskrei- schen werde - und vor allem, sie möge nicht womöglich vor lauter Aufregung abermals einen Schlag- anfall erleiden.

Die Hoffnung des Helfers wurde erfüllt. Die Straßenbahn fuhr los, der Introitus war überstanden, die Mutter des Möbelhändlers war se- Ug.

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