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Eine nationale Zerreißprobe

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Am 6. Dezember werden die Schweizer über den EWR-Vertrag abstimmen. Dieses Referendum wurde von guten Vorzeichen einbegleitet: am 27. September entschied sich die Schweiz für die Neue Eisenbahn-Alpen-Transversale (NEAT, siehe Graphik), die den Bau neuer Eisenbahntunnels am Gotthard und am Lötschberg vorsieht.

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Am 6. Dezember werden die Schweizer über den EWR-Vertrag abstimmen. Dieses Referendum wurde von guten Vorzeichen einbegleitet: am 27. September entschied sich die Schweiz für die Neue Eisenbahn-Alpen-Transversale (NEAT, siehe Graphik), die den Bau neuer Eisenbahntunnels am Gotthard und am Lötschberg vorsieht.

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Das Transitabkommen mit der EG war beiderseits als Voraussetzung für die Zusammenarbeit im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) betrachtet worden. Schließlich ist dieses Großprojekt, dessen Kosten sich nach offiziellen Angaben auf 15 Milliarden, nach privaten Schätzungen eher auf 25 Milliarden Franken belaufen werden, auf das rasant wachsende Transportvolumen zwischen Nordeuropa und Italien zugeschnitten und damit ein Schweizer Beitrag zur europäischen Verkehrspolitik.

Das Referendum zum EWR-Vertrag dürfte - Meinungsumfragen zufolge - ein knappes Ja ergeben. Das Parlament hat den Vertrag bereits mit großem Mehr gegen den Widerstand kleiner EG-feindlicher Gruppen gebilligt. Aber immer noch zögern breite Schichten -darunter viele Frauen, Arbeiter und Bauern, die um ihre Arbeitsplätze bangen. Andere möchten zwar beim EWR mitmachen, im Zweifelsfall aber doch nationales vor EG-Recht gehen lassen.

Weil man um den Stimmbürger nicht herumkommt, wird auf breiter Ebene informiert. Kostenpunkt: gut sechs Millionen Franken. EWR und EG sind in aller Munde - in den Wirtshäusern, in den Zügen, auf den Ar-

beitsplätzen. Ein Ja zum EWR wäre deshalb breiter abgestützt als etwa in Österreich, wo Berufspolitiker allein entschieden hätten und keine echte EWR-Diskussion mit den Bürgern stattfinde, heißt es in Bern.

Im September kletterte der Anteil der Ja-Sager für den EWR auf 53 Prozent. Dabei sind die Befürworter bei den „Romands" der Westschweiz bedeutend zahlreicher als bei Deutschschweizern und im Tessin. So geht es nicht nur um Europa, sondern auch um den inneren Zusammenhalt, das Überleben des schweizerischen Bundesstaates, dessen Existenz durch ein Nein der alemannischen Schweiz gefährdet wäre. Um diese nationale Zerreißprobe zu verhindern, sei ein „hi-

storischer Kompromiß" gefordert, so der Zürcher „Tages-Anzeiger".

Für die Wirtschaft hingegen ist alles klar: EWR-Beitritt oder Niedergang. Nach Meinung des „Vororts", der Dachorganisation der Industrie, überwiegen die Vorteile bei weitem -mit großen Chancen der Schweiz auch im Dienstleistungsverkehr. 70 Prozent der Ausfuhren gehen in EG-Länder. Fast 60 Prozent der Importe kommen von dort.

Aus den gleichen Gründen sind

Banken und Versicherungen vorbehaltlos für den EWR. Im Falle der Isolation würde die Wirtschaft längerfristig nur noch wenig wachsen, warnen Bankökonomen. Nach einer Basler Umfrage würden 80 Prozent der Unternehmen dann lieber im Ausland investieren. Im EWR würden dann auch die nötigen Anpassungen der Schweizer Gesetzgebung an die EG-Normen beschleunigt und verschleppte Reformen vorangetrieben. Man denkt dabei im Finanzbereich an ein europakonformes Börsengesetz. Am Bankgeheimnis aber würde sich im EWR nichts ändern.

Bei den Gegnern und Zweiflern -die eher an der „Basis" denn in der Führung der Unternehmen zu finden sind - wirken Ängste vor dem Unbekannten, vor dem „grenzenlosen" Europa. Man hat Angst vor der freien Zuwanderung von Arbeitskräften, vor dem drohenden „Lohndumping" durch Fremdarbeiter. Dagegen bereitet Bern schon Abwehrmaßnahmen vor. Man fürchtet den „Ausverkauf der Heimat" durch Erwerb von Grundstücken und Wohnungen an EWR-Ausländer, obwohl fünf Jahre Übergangszeit vorgesehen sind,in denen das alte Bewilligungssystem bestehenbleibt. Und dann gibt es jene, die von der EG überhaupt nichts wissen wollen, weil sie den Brüsseler Zentralismus, die Bürokratie und die Aushöhlung der demokratischen Strukturen und Rechte der Schweiz kommen sehen.

Für die meisten bleibt der EWR-Anschluß eine pragmatische Zwischenlösung zwischen EG-Beitritt und Alleingang. Der EWR sichert immerhin den Zugang zum Markt von 380 Millionen. Die nationale Unabhängigkeit - Neutralität, Föderalismus und die Referendums-Demokratie - bleiben unangetastet.

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