7225042-1993_43_12.jpg
Digital In Arbeit

Eine neue Dimension in der EG

19451960198020002020

Raum verloren hat Portugal nach der Unabhängigkeit seiner Kolonien - wie Österreich vor 75 Jahren nach dem Zerfall der Monarchie, sagt Handelsrat Alexandre.

19451960198020002020

Raum verloren hat Portugal nach der Unabhängigkeit seiner Kolonien - wie Österreich vor 75 Jahren nach dem Zerfall der Monarchie, sagt Handelsrat Alexandre.

Werbung
Werbung
Werbung

Man hat schon vergessen, daß Portugal einst als Kolonisator, als Weltmacht einen großen Wirtschaftsraum zur Verfügung hatte. Die Portugiesen waren beispielsweise die ersten, die nach Afrika gegangen sind, sie waren auch die letzten, die die alten Kolonien in die Unabhängigkeit geschickt haben. Mit der überstürzten Entlassung der Überseeterritorien (außer Macäo) 1974 bis 1975, also vor noch nicht 20 Jahren, fand sich das zurückgestutzt Portugal in einer Identitätskrise vor.

Die Parallelen zu Osterreich sind erstaunlich, trotz gänzlich anderer historischer Voraussetzungen. „Ich glaube, daß Österreich das auch ver steht", bemerkt dazu der Chef der portugiesischen Handelsdelegation in Wien, der gelernte Theologe Manuel da Silva Alexandre, der in diesem Zusammenhang auf die Situati-

on des „Restes Österreich" nach dem Ende der Monarchie - allerdings schon vor 75 Jahren - verweist. „1975 ist in Portugal das größere Raumdenken zu Ende gegangen. In dieser Situation hat Portugal als EG-Mitglied eine neue Dimension geschaffen." Das sei so zu verstehen, „daß wir uns gegenüber den ehemaligen Kolonien verantwortlich fühlen". Mit Neokolonialismus - so da Silva Alexandre - habe das nichts zu tun. „Neokolonialismus wünscht kein Mensch mehr in Portugal. Aber wir fühlen uns inmitten des Umgestaltungsprozesses Afrikas. Wir denken gemeinsam mit den Regenten in Afrika, von denen viele in Portugal studiert haben, über die Zukunft des Kontinentes nach. Portugal ist auch ein Kulturgemisch - und solange Afrika es von uns verlangt, werden wir diese Rolle zu spielen nicht vergessen."

Wie Österreich den Osten kenne, „so kennen wir Afrika", betont Alexandre und zückt die Rede des portugiesischen Außenministers Jose Manuel Duräo Barroso dieser Tage vor der UNO-Generalversammlung. Darin ist von den Prinzipien portugiesischer Außenpolitik die Rede; Alois Mock hätte es nicht schöner sagen können: Friede und Entwicklung von Demokratie auf der Grundlage der Anerkennung der Menschenrechte sowie die Kreation eines UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte beseelen Portugals Außendenken und -handeln.

Ausdrücklich nimmt Duräo auf

die Spezialverantwortung seines Landes für Afrika Bezug, die auch die internationale Gemeinschaft nicht vernachlässigen dürfe.

Handelsrat Alexandre gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß Portugal als Kulturnation unendlich viel für die Forschung und Entwicklung Europas und der Welt geleistet habe. „Aber in den atzten 100 Jahren waren wir erschöpft. Die Besten sind in Afrika, in Amerika, auf dem Meer gestorben. Und das spüren wir heute noch."

Der Portugiese ist flexibel und mobil. Die hohe Migrationsrate zeigt dies: nach einer Schätzung aus dem Dezember des Vorjahres leben gegenwärtig im EG-Raum 1,1 Millionen Portugiesen außerhalb ihres Landes (vor allem in Frankreich, Belgien, Niederlande, Deutschland

und Spanien). In Nord- und Südamerika wird die Zahl der ausgewanderten Portugiesen auf mehr als 2,5 Millionen geschätzt. In Afrika lebt eine Dreiviertel Million, in Asien etwa 40.000 und in Ozeanien 65.000. Das heißt, grob geschätzt gibt es weltweit 4,5 Millionen emigrierte Portugiesen. Diese sind wirtschaftlich für das Mutterland enorm wichtig. Portugal hat Gesetze geschaffen, die für Emigranten gewisse Privilegien vorsehen, sofern sie ihr im Ausland verdientes Geld ins Mutterland überweisen. Alexandre: „Unsere Zahlungsbilanz ist durch Einnahmen aus dem Tourismus und durch die Überweisungen unserer Gastarbeiter praktisch ausgeglichen. Das Element Tourismus hat also bei uns die gleiche große Bedeutung wie für Österreich."

Ein Problem in diesem Zusammenhang sind die Einwanderer — aus Afrika, aber auch aus Osteuropa, vor allem die Rumänen. Ein neues Einwanderungsgesetz auf der Grundlage ähnlicher Kriterien wie jener, die Österreich angewendet hat, schiebt dem Wirtschaftsflüchtlingsstrom einen Riegel vor. Die Kirche hat sich querzulegen versucht. Dazu Alexandre: „Die Kirche kann die Utopie verteidigen, vom Staat kann man das aber nicht verlangen. Das hat nichts mit Chauvinismus zu tun, sehr viel aber mit Realismus."

Welche Erfahrungen bringt Portugal mit seinem EG-Beitritt für Österreich ein? Mit Stolz verweist man auf die höchste Wachstumsrate Europas und die zweitgrößte der OECD seit 1986, die niedrigste Arbeitslosenrate Europas (4,5 Prozent,

bei einem EG-Durchschnitt von 9,9 Prozent 1992), eine „beispiellose Verbesserung" der Infrastrukturen, eine ausgeglichene Kontrolle der Inflationsrate sowie die Konsolidierung des ausländischen Vertrauens in die portugiesische Wirtschaft, wofür als paradigmatisches Beispiel das gigantische VW/Ford-Projekt bei Setubal angeführt wird (Seite 14).

Alexandre betont jedoch in diesem Zusammenhang, daß Portugal schon seit jeher eine niedrige Är-beitslosenrate hatte, weil es ein Gesetz gibt, das Entlassungen von Arbeitern den Betrieben sehr schwer, fast unmöglich machte. Die neuen Bedingungen in der EG hatten eine Lockerung dieses Gesetzes zur Folge: Es geht um eine Bücksichtnahme auf ausländische Investoren, die mit den scharfen Arbeitsgesetzen nicht verschreckt werden sollen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung