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Eine neue Kunst des Lebens und Sterbens

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„Ich werde niemandem eine Arznei geben, die den Tod herbeiführt, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde” … heißt es im Hippokratischen Eid, der sich energisch gegen ärztliche Euthanasie und Mithilfe am Selbstmord wendet. So lange noch ein Funken Hoffnung auf Lebenserhaltung besteht, hat der Patient, der sich dem Arzt anvertraut oder in seine Obhut gegeben wird, das Recht auf ärztliche Behandlung, auch im bewußtlosen Zustand.

Je näher ein Mensch dem Tode ist, um so mehr ärztliche Hilfe wird er verlangen. Bei akuter Lebensgefahr, etwa bei einem Unfall, muß eine Notstandstherapie einsetzen, die die Wiederherstellung der Lebensprozesse zum Ziel hat. Auf den Intensivstationen werden rund um die Uhr, Tag und Nacht, nicht nur Herz und Kreislauf, sondern auch schwer lädierte Organe, deren Ausfall den Tod herbeiführen kann, durch Einsatz aller therapeutischen Maßnahmen in Einsatz zu erhalten versucht

Die Behandlung soll aber auch gleichzeitig den Zustand des Patienten erträglich machen; Schmerzen werden gelindert, Erstickungsanfälle, Durst und Angst können meist ohne Lebensverkürzung beseitigt werden. Die Medizin und das gesamte Gesundheitswesen ermöglichen heute dem Menschen ein langes Leben, sie erlauben aber auch bei schweren Krankheitsfällen, das Leben durch Apparate und Medikamente aller Art zu verlängern.

Man fragt sich schließlich, ob der Patient, der in eine Klinik eingeliefert wird, noch menschlich sterben kann. Ist ein Unfalltoter tatsächlich tot oder wird er nur mehr als Organlieferant benützt? Werden nicht Organe eines klinisch Toten noch künstlich funktionsfähig erhalten?

Außer dem plötzlichen Tod durch schwere Verletzung, Ersticken oder Vergiftung gibt es das chronische Sterben, das Tage und Jahre dauern kann. Die Organe versagen langsam, die Ärzte sprechen vom „Partialtod”, etwa bei einer chronischen Niereninsuffizienz, der Übergang zum Sterben ist fließend. Der Kranke lebt ein fortschreitend reduziertes Leben. „Der Mensch aber lebt, so lange er stirbt” (Paul Bockeimann). Nach diesem Grundsatz muß der Arzt handeln.

Starker Blutverlust, Kreislauflähmung, ja sogar Herzstillstand können behoben werden. Entscheidend ist, ob durch einen Partialtod auch die Funktionsfähigkeit des Gehirns zu Ende gegangen ist. Ein Mensch, dessen Gehirn tot ist, ist tot, auch wenn sein Herz noch, durch eine Herz- Lungenmaschine angeregt, schlägt. Daher zeigt der Herzstillstand nicht mehr das Ende des Lebens an, sondern allein der dauernde Verlust der Himfunktionen. Nach Eintritt des isolierten Himtodes ist ein bewußtes menschliches Leben nicht mehr möglich. Bei sicherem Himtod können die Apparate abgestellt und jede Behandlung kann eingestellt werden. Das ist keine Tötung, keine Euthanasie, eine Leiche kann weder leben noch sterben. Wenn der Himtod klinisch festgestellt wird, kann, aller Voraussicht nach, keine Wiederbelebung des Gehirns mehr erfolgen. Erst dann ist eine Organentnahme moralisch vertretbar.

Dozent Dr. Gottfried Roth sagt hierzu: „Sterbehilfe ist nur dann eine wirkliche Hilfe, wenn Lebensverlängerung, Leidverringerung und Freiheitserhaltung gleichzeitig im Auge behalten und miteinander in Einklang gebracht werden.” Der Patient soll noch die Möglichkeit haben, seine persönlichen Verfügungen zu treffen, zu ordnen, zu raten, zu verzei- chen, zu beichten und die Absolution zu erhalten.

Es ist keine Sterbehilfe, wenn das Leben rücksichtlos verlängert und dadurch die Leiden vergrößert werden; ebensowenig dann, wenn die Leiden vermindert und dabei das Leben abgekürzt wird, oder die Drogen ein Wachwerden nicht mehr erlauben. Sterbehilfe ist sittlich nicht verwerflich, wenn sie die Erleichterung oder die Abkürzung der Qualen eines Sterbenden angesichts des sicheren Todes anstrebt und wenn sie ihm die Vorbereitung auf einen guten Tod ermöglicht.

Wenn der Arzt aber bewußt’ „lebensunwertes” Leben vernichtet oder dem Verlangen eines Kranken nach dem eigenen Tod nachgibt, verletzt er seinen Hippokratischen Eid. „In der Praxis kann das allerdings sehr kompliziert sein”, meint Dozent Roth.

Neben der Technik und den Medikamenten wird heute allzu leicht die psychische Hilfe beim Sterben vernachlässigt. Heilung und Trost der Kranken sind gleichartige Pflichten des Arztes. Im Sterbeprozeß tritt die Pflicht zum Trost in den Vordergrund.

Der Gynäkologe Andreas Seidl meint hiezu: „Wir haben Anatomie studiert, aber nicht gelernt, wie man die Sterbestunde menschlich erleichtern kann … das heißt, der Arzt müßte sich mit dem Patienten im kritischen Zustand befassen, und zwar nicht nur im Rahmen des gnadenlosen Visitenbetriebes.” Zeit nehmen, im Tode beistehen, wäre eine menschliche und ärztliche Pflicht.

Der Sterbende hat auch ein Recht auf die Gegenwart der Angehörigen und des Seelsorgers. Er sollte in keiner Weise aus der mitmenschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

Neben der Technik, auf die nicht verzichtet werden kann, wird heute besonders auf menschlichem Gebiet eine neue Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens verlangt. Nur so kann auch in letzter Stunde die individuelle Würde des Menschen gesichert werden.

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