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Eine perfekte Republik

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Es gibt in der freien Welt nur eine einzige perfekte Monarchie: die britische. „The king in his parliament is England — Der König in seinem Parlament ist England.“ Der König herrscht und das Parlament regiert, das heißt, es betreibt Politik. Und es gibt in der freien Welt nur eine einzige Republik: die Schweizerische Eidgenossenschaft. Sie ist eine echte „res publica“, in der das Volk der einzige Souverän ist.

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Es gibt in der freien Welt nur eine einzige perfekte Monarchie: die britische. „The king in his parliament is England — Der König in seinem Parlament ist England.“ Der König herrscht und das Parlament regiert, das heißt, es betreibt Politik. Und es gibt in der freien Welt nur eine einzige Republik: die Schweizerische Eidgenossenschaft. Sie ist eine echte „res publica“, in der das Volk der einzige Souverän ist.

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Fast alle anderen Staaten der freien Welt, die einmal in ihrer Geschichte eine Variante der monarchistischen Staatsform besaßen, haben diese, so merkwürdig es klingt, auch unter dem Titel einer Republik beibehalten. Sie sind in Wirklichkeit verkappte Monarchien jener Art, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert herauskristallisiert hat. An Stelle eines lebenslänglichen und durch Erbrecht berufenen Staatsoberhauptes tritt ein Monarch, der jetzt durch Wahlen und nur für eine bestimmte Zeit in sein Amt berufen wird. Das typische Beispiel sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Der amerikanische Präsident ist eigentlich ein Monarch des frühen 19. Jahrhunderts, das heißt, er ist nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Ministerpräsident und faktisch auch Leiter der Außenpolitik und des Heereswesens. Er wird nur mäßig kontrolliert durch die im Senat vereinigten Stände. (Auf englisch: United Staates.) Der französische Präsident wiederum ist eine Mischung aus Ludwig XVIII. und Napoleon III. Der italienische eine zivile Ausgabe Viktor Emanuels III. Und der österreichische Bundespräsident eine Art Franz Joseph auf sechs Jahre.

Die Sehweiz hat-eigentlich überhaupt kein Staatsoberhaupt. Rechtlich übt die Funktionen eines Staatsoberhauptes die siebenköpfige Regierung aus. In einem solchen Fall heißt „Ausübung der Funktionen eines Staatsoberhauptes“, sich auf repräsentative Aufgaben beschränken. Da dies aber ein Kollektiv nur schwer tun kann, so ist jeweils auf ein Jahr ein Mitglied der Regierung — in der Schweiz heißt sie „Bundesrat“ — Bundespräsident oder, wie der französische Titel richtiger lautet, „President de la confederation“.

Ernennungsrechte hat dieser primus inter pares natürlich keine. Er ernennt weder eine Regierung noch Beamte. Die Regierung wählt das Parlament. Er kann auch das Parlament nicht auflösen und jede Regierung weiß somit, daß sie ohne Gnade und Barmherzigkeit einem Parlament auf vier Jahre gegenüber zu stehen hat. Allerdings nicht ganz ohne Gnade: denn ein Parlament der Schweiz kann auch keine Regierung stürzen oder zum Rücktritt zwingen. Das Parlament kann die Anträge der Regierung ablehnen, aber dies ist noch kein Mißtrauensvotum.

Der Bundespräsident ernennt auch keine Beamte, keine Richter, keine Offiziere, nicht einmal den in Kriegszeiten vorgesehenen einzigen „General“. Jeder Beamte wird immer wieder gewählt, und zwar alle vier Jahre, ein für Österreich unvorstellbarer Vorgang. Jedermann kann sich die Intrigen vorstellen, die in

Österreich angewandt würden, um auch den tüchtigsten und korrektesten Beamten „wegzuwählen“. Es zeugt für die hohe Disziplin und die Objektivität der Schweiz, daß ein Beamter niemals weggewählt wird, sondern immer wieder gewählt wird, wenn nicht schwerwiegende Gründe gegen ihn vorliegen. Auch der höchste Offizier der Schweiz „der General“, wird gewählt.

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Das Volk der Eidgenossenschaft ist wirklich der einzige Souverän in dieser Gemeinschaft. Und seit vor kurzem endlich das Frauenwahlrecht auch auf Bundesebene eingeführt wurde (einige Kantone kannten es auch schon früher), ist somit wirklich das gesamte handlungsfähige Volk ein Souverän.

Die Schweiz ist vielleicht der einzige Staat der freien Welt, in der es eine echte, direkte Demokratie gibt, die auch wirklich funktioniert. Das heißt, daß das Volk immer wieder aufgerufen wird, in direkten Wahlen Gesetze zu beschließen oder abzulehnen.

In den kleinen Urkantonen der Schweiz gab es dieses System der direkten Demokratie seit jeher. Das heißt, jeder Wahlberechtigte ist gleichzeitig sein eigener Abgeordneter und diese sämtlichen Abgeordneten sitzen im entsprechenden Kantonsparlament und stimmen über Kantonsgesetze ab. Natürlich kann ein solches System in größeren Kantonen oder auf Bundesebene ständig nicht immer praktiziert werden. Der normale Gang eines Gesetzes geht auch hier über die beiden Kammern des Parlamentes.

Aber daneben gibt es Gesetze, die unbedingt durch eine Volksabstimmung bestätigt werden müssen, wenn sie in Kraft treten sollen. Und daneben hat das Schweizer Volk immer die Möglichkeit, durch Sammlung von 30.000 Unterschriften eine Abstimmung über ein bestimmtes Gesetz ausschreiben zu lassen.

Für den normalen Europäer ist es fast unvorstellbar, worüber in der Schweiz abgestimmt wird und wie oft die Schweizer zu den Urnen eilen müssen. Im Halbkanton Basel-Stadt wurde zum Beispiel darüber abgestimmt, ob das kantonale Museum ein Gemälde von Picasso zu einem, wie man sich vorstellen kann, außerordentlich hohen Preis, ankaufen solle. Und das Basler Volk stimmte mit „ja“. Man stelle sich vor, was das Volk von Wien sagen würde, wenn man es aufforderte, für den Ankauf eines Gemäldes von Kokoschka abzustimmen, dessen Preis einige Millionen beträgt.

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Der stimmberechtigte Schweizer Bürger geht eigentlich ununterbrochen zu den Urnen. Entweder um Gesetze zu beschließen oder um sie zu verwerfen. Oder um die Abgeordneten für die Gemeinden, die Kantonsparlamente oder das Gesamtparlament zu wählen. Natürlich stöhnt der eine oder andere Schweizer über diesen ewigen Urnengang. Und natürlich gibt es auch hier Ermüdungserscheinungen. Urnengänge mit einer Beteiligung von nur 40 Prozent sind keine Seltenheit. Diese geringe Beteiligung erboste einmal einen Geistlichen derart, daß er bei der Predigt am schweizerischen Nationalfeiertag, dem 1. August, über das „stimmfaule Schweizer Volk“ wetterte.

Dieser ewige Urnengang aber ist eine Garantie dafür, daß in der Schweiz niemals eine Partei den Staat vollkommen beherrschen kann, um ihn gleichsam als Eigentum zu betrachten. Dieser Urnengang ist das Veto des Volkes, und ein so gewiegter Politiker wie der schweizerische Minister des Innern Etter (da er 25 Jahre Minister war, wurde er bereits „Etternel“ genannt) sagte aus seiner langjährigen Tätigkeit heraus, daß er eigentlich noch nie eine politisch falsche Abstimmung des Schweizer Volkes erlebt habe.

Dies eedg& für' das hohe Verantwortungsbewußtsein und politische Denken, das dem Schweizer Volk zu eigen ist oder zu eigen wurde durch eine lang andauernde günstige Entwicklung.

Sicherlich ! auch herbeigerufen durch jene ständige Schulung, die darin besteht, daß der einzelne entscheiden kann, was er selbst tun soll oder die kleinere Gemeinde das erledigen kann, was der größeren nicht angelastet werden darf.

Aus diesem Aspekt heraus, kennt die Schweiz bis heute noch nicht die Lohnsteuer, die klassische Steuer des 20. Jahrhunderts. Jeder einzelne muß ein Einkommenssteuerbekenntnis machen, auch der Beamte, auch der Arbeiter. Die Ämter und Industrien ersparen sich dadurch, Lohnbüros auf eigene Kosten zu erhalten, die eigentlich die Aufgaben des Staates und des einzelnen vollbringen. Dadurch wird aber wiederum die Verwaltung billiger und tatsächlich zahlt der Schweizer höchstens dreißig Prozent Steuern, während sie in anderen Ländern auf 50 und 60 Prozent klettern.

Was eine Gemeinde erledigen kann, soll nicht der Kanton entscheiden. Und was ein Kanton entscheiden kann, das geht den Bund nichts an. Man darf allerdings nicht vergessen, daß die Schweizer Kantone echte Staaten sind, die nur auf einen Teil ihrer Souveränitätsrechte zugunsten einer Bundeszentral-gewalt verzichtet haben. (Die Bezeichnung „Kanton“ für die Staaten der Schweiz ist ebenso wie die Bezeichnung „Departement“ für die Ministerien eine letzte Erinnerung an die Zeiten von 1798 bis 1803, da unter französischem Einfluß der erste schweizerische Bundesstaat entstand. Viele Kantone der Schweiz betonen ihre Eigenstaatlichkeit noch dadurch, daß sie der Bezeichnung Kanton noch einen anderen Staatsbegriff voransetzen, wie zum Beispiel Genf, das sich amtlich „Re-publique et canton de Geneve“ odr Freiburg, das sich „Les 6tats et canton de Fribourg“ nennen.)

Die Polizei, das Gerichtswesen, aber auch das Schulwesen fallen in die Kompetenzen der Kantone und ,'nicht, deg^ft^gi^^if sT^fl|^i Hochschule in Zürich ist eine Bundesangelegenheit. Für manche kleinere Kantone ist die Schulhoheit eine nicht geringe Last. Ein kleiner Kanton, wie zum Beispiel Basel-Stadt erhält eine große und sehr teure Universität, an der natürlich Schweizer aus anderen Kantonen studieren, die nichts zur Erhaltung dieser Hochschule beitragen.

Finanzielle Gründe werden es möglicherweise sein, die innerhalb der Schweiz neue politische Formen, die sich zwischen Kanton und Bund schieben, entstehen lassen: der Zusammenschluß mehrerer Kantone, die gemeinsam eine Aufgabe lösen sollen, zu einer Region. Auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs sind hier die ersten erfolgreichen Bindungen entstanden: Die Fremdenverkehrsvereine der 25 Schweizer Kantone schlössen sich zu zehn Regionen zusammen. Auf dem Gebiet der Schulpolitik wird es vielleicht zu den nächsten Regionsbildungen kommen.

In der Ständekammer, der anderen Kammer des Parlaments, hat der Schweizer nochmals die Möglichkeit einer strengen-Kontrolle der Zentralgewalt. Das schweizerische Parlament besteht aus zwei Kammern; dem Nationalrat und der Ständekammer. Beide Kammern sind völlig gleichberechtigt. Jede Kammer kann einen Gesetzesantrag stellen und ein Gesetz wird erst dann gültig, wenn es von der anderen Kammer auch genehmigt ist. Jeder Kanton ist in der Ständekammer mit gleichviel Stimmen vertreten, gleichgültig, wie groß er ist. In Österreich dagegen sind die einzelnen Länder im Bundesrat mit mehr oder weniger Stimmen' je nach Größe vertreten. Außerdem hat der österreichische Bundesrat gegenüber der schweizerischen Ständekammer so gut wie keine Rechte, i Das heißt, er kann eigentlich keinerlei richtige Kontrollfunktion dem Nationalrat gegenüber ausüben. Auch hier ist die Schweiz viel glücklicher.

Die Regierung selbst ist nur ein Exekutivorgan der Parlamente. Dies gilt für die Kantonsregierungen und auch für die Bundesregierung. Sie .haben d^s durchzuführen, was.,die Parlamente beschließen. Vorausgesetzt, daß die Beschlüsse des Parlaments, wenn es die Verfassung vorschreibt, auch die Zustimmung des Volkes erhalten oder .ein Parlamentsbeschluß nicht durch eine Volksabstimmung abgeschafft wird. Denn es gibt in der Schweizer Konföderation nur einen Souverän, der über alles entscheidet: Das, Schweizer Volk.

Die Gewalten Verteilung ist somit folgende: in Wirklichkeit kein Bundespräsident; eine schwache Regierung; ein starkes Parlament und darin eine starke Länderkammer. Über allem das Volk als Souverän. In Österreich dagegen ist die Reihenfolge: starker Bundespräsident; starke Regierung; ein Parlament, das immer wieder versucht, sich auszuschalten, und darin eine Länderkammer, die fast völlig ohne Macht ist; ein Staatsvolk, das nur in Form von Denkzettelwahlen die Möglichkeit hat, seine Meinung zu äußern. Der Unterschied ist evident.

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