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Eine Schatztruhe der Wissenschaft

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Österreichs zweiter Kardinal, Alfons Stickler, erzählte der FURCHE, wie reich und arm die Vatikanische Bibliothek zugleich ist und welches Archivmaterial bald veröffentlicht wird.

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Österreichs zweiter Kardinal, Alfons Stickler, erzählte der FURCHE, wie reich und arm die Vatikanische Bibliothek zugleich ist und welches Archivmaterial bald veröffentlicht wird.

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Können Sie sich eine Maus vorstellen, die unter der Käseglocke neben dem Käselaib vor Hunger stirbt?

Mit einer solchen Maus hat sich der österreichische Kurienkardinal Alfons Stickler einmal verglichen, nachdem er, 1971, zum Prä-fekten der Vatikanischen Bibliothek in Rom ernannt worden war, weil „jemand, der die Leitung dieser großartigen Institution übernimmt, kaum noch Gelegenheit hat, seine eigene wissenschaftliche Arbeit weiterzuführen, die ja Ruhe und Zeit verlangt“.

Inzwischen ist Alfons Stickler Bibliothekar und Archivar der Römischen Kirche geworden, hat den Kardinalspurpur verliehen bekommen und ist nun in der Stellung „eines Kontrolleurs und Förderers“ (Stickler), während die unmittelbare Leitung der Bibliothek ein neuer Präfekt übernommen hat, jener Bibliothek, durch die Stickler erst am vergangenen Freitag Bundeskanzler Fred Sinowatz geführt hat.

„Die Bibliothek wurde 1475 von Papst Sixtus IV. gegründet, und zwar, was viele nicht wissen, nicht als Theologen-, sondern als Humanistenbibliothek, und sie ist es bis heute geblieben“, erklärt Stickler. Im Sinne des Humanismus von damals umfaßt sie vor allern die Geisteswissenschaften, insbesondere die Geschichte der Geisteswissenschaften, Theologie, Philosophie, Philologie, aber auch Kunst und Technik, soweit sie in das Gebiet der Kunst hineinreicht.

In der Frühzeit durften Bücher auch noch entlehnt werden, weshalb sich in den alten Katalogen noch die Handschriften bedeutender Humanisten finden. Da immer wieder Bücher in Verlust gerieten, wurde unter Sixtus V. das Ausleihen strikte verboten und vorübergehend sogar mit Exkommunikation belegt. „Was einmal in die Bibliothek gekommen ist, darf nur mit Erlaubnis des Papstes wieder heraus“, betont Stickler.

Die Vatikana ist keine allgemeine, sondern eine Forscherbiblio-thek. Nur qualifizierte Wissenschaftler (etwa Hochschullehrer, Akademiemitglieder) haben Zutritt zum Lesesaal. Dürfen auch Leute mit bekannt kritischer Einstellung zur Kirche hinein?

Kardinal Stickler dazu deutlich: „Ich habe auch dem Herrn Bundeskanzler gegenüber unterstrichen: Die Vatikanische Bibliothek hat den Ökumenismus im weitesten Sinn des Wortes von Anfang an geübt. Wenn sich jemand als Wissenschaftler ausweisen kann, wird niemand gefragt, ob er Katholik, Protestant, Jude, Muslim, Atheist oder Kommunist ist.“

Zur Zeit der Gründung umfaßte die Bibliothek 2500 Handschriften, für damalige Begriffe eine Höchstzahl. Durch Käufe und Schenkungen wurden die Bestände im Lauf der Jahre beträchtlich vermehrt. Vollständige andere Bibliotheken von großer Bedeutung sind in die Vatikana eingegangen, zum Beispiel die „Palati-na“ aus Heidelberg (1623), deren Bestände eigens geführt werden. Für das 600-Jahr-Jubiläum der Universität Heidelberg im kommenden Jahr werden mit Ausnahmegenehmigung des Papstes Werke aus dieser Bibliothek für sechs Monate nach Heidelberg zurückkehren, um dort ausgestellt zu werden.

Die größten Schätze der Vatikana sind die fast 70.000 Handschriften. Daneben gibt es etwa eine Million gedruckter Bücher, „was für 500 Jahre Geschichte nicht viel ist“, sagt Stickler, „aber man muß bedenken, daß sich die Vatikana auf die Geisteswissenschaften beschränkt“.

Wie kommt die Vatikana zu Büchern? Schließlich erhält sie nicht, wie etwa eine Staatsbibliothek, Pflichtexemplare von Zehntausenden Druckwerken pro Jahr. „Es wäre für die Vatikana ein ungeheurer Schaden“, meint Stickler, „wenn beispielsweise alles hereinkäme, was in kirchlichen Druckereien gedruckt wird -dann müßten wir jedes Jahr etliche Räume dazubauen.“ Und mit dem meisten könnte die Vatikana aufgrund ihrer Fachausrichtung gar nichts anfangen.

Modernste Technologie

Es gibt drei Erwerbsquellen für Bücher: Geschenke an die Bibliothek, Tausch vatikanischer Druckwerke gegen Werke wissenschaftlicher Institutionen (Universitäten, Akademien) aufgrund von Abkommen und Kauf. Große Sprünge lassen sich freilich mit dem Budget von knapp zwei Millionen Schilling pro Jahr, das außer den Löhnen (welche die Vatikanverwaltung trägt) alle Ausgaben - für Räume, Möbel, Buchbinden und Bucherwerb -decken muß, nicht machen.

Schecks, wie sie in der Vorwoche in Rom von Bundeskanzler Sinowatz und in Wien von Landeshauptmann Siegfried Ludwig namens der Landeshauptleutekonferenz an Kardinal Stickler übergeben wurden, sind daher für die Vatikanische Bibliothek immer nötig und sehr willkommen.

Die Vatikana umfaßt viel mehr als Bücher und Handschriften, nämlich auch wichtige Archivalien, rund 100.000 Kunstdrucke und Kupferstiche, über 200.000 Auto-graphen, den älteren Teil der Vatikanischen Museen, die bedeutende Münzen- und Medaillensammlung, eine Restaurierungsanstalt und ein Fotolabor.

Die moderne Technik hat längst Einzug gehalten. In den USA besteht ein „Sicherheitsarchiv“ mit Mikrofilmen der wichtigeren Handschriften. Für Reproduktionsaufträge hat man im Vatikan selbst ein Filmarchiv eingerichtet, damit die kostbaren Handschriften durch ständiges Fotografieren nicht Schaden nehmen. Den Forschern in der Bibliothek werden aber in der Regel die Originale vorgelegt, allenfalls Faksimile-Ausgaben der wertvollsten

Handschriften. Mit dem Stuttgarter Belser-Verlag läuft ein 20-Jahre-Vertrag, der hochwertige Faksimile-Ausgaben der kostbarsten Handschriften vorsieht. Sie werden im Belser-Studio im Vatikan mit modernster Technologie (Scanner, Laser, Chroma-skop) erarbeitet.

Kardinal Stickler steht auch dem Vatikanischen Archiv vor. Bisher war nur Archivmaterial bis 1903 der Öffentlichkeit zugänglich, nun hat Papst Johannes Paul II. die Erlaubnis gegeben, daß auch das Material bis 1922, das die Pontifikate von Pius X. und Benedikt XV. umfaßt (mit dem Modernismus/Antimoder-nismus-Konflikt und dem Ersten Weltkrieg), zum Studium freigegeben wird. „Das geht aber nicht von heute auf morgen, diese Bestände müssen erst numeriert, gebunden, restauriert werden, und das sind immerhin 25.000 Bände“, erklärt Stickler und gibt damit zu verstehen, daß noch jahrelange Vorbereitungen nötig sind, um dieses interessante Archivmaterial der Forschung zugänglich zu machen.

Die Salesianer Don Boscos haben ihr hochrangiges Ordensmitglied am Wochenende mit einer Festakademie geehrt. Bei allen Verdiensten des zweiten Kardinals aus Österreich — und zugleich aus Niederösterreich — ist wohl besonders hervorzuheben, daß er die eigene wissenschaftliche Tätigkeit hintangestellt hat, um seinen Kollegen einen Schatz der Wissenschaft, wie ihn die Vatikana dargestellt, bestmöglich zugänglich zu machen.

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