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Eine schwarze Fahne

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Während alle Welt über die etwas schaukelnden Fahrten des Mondautos’ spricht, weht auf dem österreichischen Parlament eine einsame schwarze Fahne. Sie gilt dem Andenken an das Mitglied des National-ratea, Frau Staatssekretär Gertrude Wondrack, die im Alter von 51 Jahren das Opfer eines Verkehrsunfalles geworden ist. Mit ihr starben noch die zwei Insassen des Gegenautos. Menschlidies Versaigen — Schneiden einer Kuirve durch den Chauffeur — scheint die Ursache für das Sterben dreier Menschen gewesen zu sein. Aber die einsame Fahne am öster-reididschen Parlament weht stellvertretend auch für die vielen Menschen, die ständig dem Teufelskreis ,^tra-ßentod" ztMn Opfer fallen. Im ersten Halbjahr 1971 — so geht aus den Statistiken hervor — s^tarben in Österreich im Durchschnitt 50 Personen pro Woche durch Verkehrsunfälle. Erschreckend ist dabei die hohe Betedligung Jugendlicher: Von hundert jungen Menschen, die Im Alter von 18 bis 24 Jahren sterben müssen, verlieren 5 ihr Leben auf der Landstraße. Noch ärger sind die Verhältnisse in Westdeuitsciiland: alle 27 Minuten — haben die Statisitiker ermitteilit — stiifet auf westdeaitschen Straßen ein Mensch, alle vier Stunden ein Kind. Das letzte Jahr sterben auf westdeutschen Straßen 19.000 Menschen und wurden 530.000 verletzt

Noch ärger sind die Zustände in den USA: Die Verkehrstoten eines Jahres übertreffen die Anzahl der Toten von drei Jahren Vietnamfcrieg. Die USA verlieren pro Jahr mehr Menschen durch den Straßentod als der zweite Weltkrieg Gefallene forderte.

Der Soziologe Helmut Schelsky spricht „von einem Gemetzel des Guerilla-Krieges, das euphemistisch Verlcehr genannt wird".

Auf der Suche nacii den Ursachen dieses Massentodes haben die Experten immer wieder als Hauiptursache „menschliches Versagen" angeführt. 90 Prozent der Unfälle sei auf dieses menschliche Versagen zurückzuführen. Darunter fallen vor allen Dingen rücksichtsloses Verhalten beim Fahren, nicht bezähmte Ungeduld, die immer wieder au unvorsichtiigem Uberholen verleitet, Übermüdung, Alkoholisierung und nicht behobene Mängel an den Fahrzeugen, die vor Antritt hätten unbedingt behoben werden müssen. So konnten die Statistiker wiederum naciiweisen, daß bei jedem vierten Fahrzeug die Bremsen nicht intakt sind. Bei vielen Fahrern ist auch die Sehkraft nicht mehr ganz intakt. So hat der Münchner Mediziner Herbert Sdiober ermittelt, daß 60.000 ältere deutsche Autofahrer fast blind sind und eigentlich überhaupt nicht mehr fahren dürften.

Seit zwei Jahren häufen sich auch die Fälle, daß Autofahrer durch rücksichtsloses Verhalten anderer in Unfälle hineingedrängt werden. Aggressives Fahren führt nämlich bei den anderen Verkehrsteilnehmern, die plötzlich erschreckt werden, zu sogenannten „Stoppreaktionen". Bs kommt dann Innerhalb weniger Sekunden zu Handikingen, die nicht mehr vom Bewußtsein gesteuert werden und nur aUizu ledciit Katastrophen zur Foilge haben können. Besonders häuflig läßt sich die Unart beobachten, auf der Autobahn Fahrzeuge, die gerade im Überholen sind, von hinten mit der Lichthupe anzublinken und ganz nahe an sie aufzuschließen. D^nit glaubt der Fahrer des schnelleren Wagens sidi den Weg sofort erzwingen zu können. Bed dem Fahrer des blockierenden Autos kommt es, wenn ein solcher Rowdy von rückwärts plötzlich auftaucht, zu einer Veränderung des Blutdrucks, Schreckreaktionen können Verreißen des Lenkrades oder plötzliches Bremsen verursachen.

Aber auch der scheinbar siportliche Fahrer mit seinem schnellen Auto befindet sich in einem gereizten Zustand. Auch bei ihm verändert sich der Blutdruck. Die sogenannte Sportlichkeit hinter dem Lenkrad wird nur zu oft ins Gegenteil verkehrt. Wer hat es nicht selbst schon an sich und anderen erlebt, daß Menschen, die ansonst die Noblesse in Person sind, in schwierigen Situationen hinter dem Lenkrad sich nur zu oft zu sehr trivialen Kraftausdrücken hinreißen lassen. Was veranlaßt nun die Autowlldlinige zu ihrem oft lebensgefährlichen Verhalten, dessen sie sich kaum bewußt sind? Wahrscheinlich ist es die Übertragung der Wettbe-werbslt’uiation, in der sich der heutige Mensch ständijg befindet, auch auf die Straße: Man will unbedingt Sieger sein, man will unbedinigt den anderen überrunden, und wenn man sciion im Beruf nicht tonangebend war, dann will man wenigstens hinter dem Lenkrad auit einer kleinen Wegstrecke als Sieger erscheinen.

Aber es ist nicht nur menschliches Versagen der Fahrer, die die Ursache so vieler Unifälle sind. Denn Straßen und Autobahnen sind oft mit gefährlichen Hindernlsssen gespickt: Als Gefahrenpunlkte entdeckten die Verkehrsexperten falsch placierte Brük-kenpfeiler, Strammaste und Verkehrsschilder, gefährliche Fahrbahn-begrenzuingen und Chausseebäume. Ungeklärt blieb bislang auch die Frage, ob die geltende Straßenverkehrsordnung geeignet ist, den Verkehrsfluß optimal zu regeln. Niemand hat bisher untersucht, ob es beispielsweise nützlich ist, 135 verschiedene Verkehrszeichen zu verwenden und an Kreuzungen ganze Schilderwälder zu errichten.

Denn der Strom der Autos ist noch im Steigen, und wenn hier niicht rechtzeitig Abhilfe geschieht, dann wird es auch der Strom der Verunglückten sein. Jeder dieser Menschen hätte noch gerne gelebt und hat ein Recht auf das Leben gehabt. Wenn eine Statistik sagt, daß der Schaden pro Toten 600.000 Schilling beträgt, dann hat sie wohl nur eine Seite dieses Unglücks erwähnt.

Aber abseits des subjektiven, menschlichen Schuldmoments müßte von den Behörden mehr getan werden, die möglichen Verkehrsfallen auszuschalten. Nun liegt im Nationalrat ein Antrag vor (und es ist ganz gleichgültig, welche Partei ihn eingebracht hat), der die Bereitstellung jener Mittel durch das Bundesbudget vorsieht, die zur Entschärfung der in Österreich registrierten 123 Verkehrsfallen notwendig wären: das würde hier einen Verkehrsspiegel, dort Schranken, eine Leitschiene, eine abgeflachte Kurve bedeuten.

Nun hat die Regierungspartei und die FPÖ diesen Antrag nicht mehr in Diskussion gezogen — die zeitlichen Gründe sind bekannt. Aber kann man wirklich verantworten, dieses Geld nicht aufzubringen? Wer trägt die Schuld für jeden In einer Verkehrsfalle Gestorbenen oder Verietzten?

Frau Wondracks Tod sollte nicht ganz vergebens sein. Vielleicht könnte die einsame schwarze Fahne am Parlament den Politikern zur ganz konkreten Mahnung dienen.

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