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Eine schwerfällige Gelassenheit

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Das Maß an Unordnung, welches das menschliche Environment in Rußland enthält, übersteigt das europäische Mittelmaß bei weitem. In russischen Wohnungen türmt sich nötiges und nutzloses Gerät zu Bergen und beansprucht weite Teile der Wohnung für sich, Kleidung und Schuhe klumpen sich zu riesigen unförmigen Haufen und drängen sich an bestimmten Stellen zusammen, während andere Bereiche des Haushalts in leerer Eintönigkeit offenstehen. Die praktische Scheinordnung, der sich diese Dinge in Europa so folgsam unterordnen und sich blitzartig in ihr verstecken, um im Gesichtsfeld kaum Spuren zu hinterlassen, fehlt in Rußland fast völlig, jedenfalls ist ihre Herstellung mit immensen Schwierigkeiten verbunden, und sie bricht auch immer sehr schnell zusammen.

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Das Maß an Unordnung, welches das menschliche Environment in Rußland enthält, übersteigt das europäische Mittelmaß bei weitem. In russischen Wohnungen türmt sich nötiges und nutzloses Gerät zu Bergen und beansprucht weite Teile der Wohnung für sich, Kleidung und Schuhe klumpen sich zu riesigen unförmigen Haufen und drängen sich an bestimmten Stellen zusammen, während andere Bereiche des Haushalts in leerer Eintönigkeit offenstehen. Die praktische Scheinordnung, der sich diese Dinge in Europa so folgsam unterordnen und sich blitzartig in ihr verstecken, um im Gesichtsfeld kaum Spuren zu hinterlassen, fehlt in Rußland fast völlig, jedenfalls ist ihre Herstellung mit immensen Schwierigkeiten verbunden, und sie bricht auch immer sehr schnell zusammen.

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Tische, Tischchen, Sessel, andere Sitzgelegenheiten, Bettgestelle versammeln sich zwanglos bald in der einen, bald in einer anderen Gegend der Wohnung, können sich bei Bedarf beliebig multiplizieren, verlieren bei solchen Vermehrungsaktionen aber leicht an innerem Halt und sinken oft kraftlos in sich zusammen.

Das soziale Zentrum der Wohnung, in dem die wichtigen Ereignisse sich anbahnen und in die anderen Räumlichkeiten ausstrahlen, ist entschieden die Küche. Materielle Basis und unerschöpflicher Nährboden ausschweifender Genüsse, die sich in unzähligen leeren Dosen, Glasbehältern und verstaubten Batterien leerer Flaschen sichtbar sedi-mentieren, empfängt sie zufällige Gäste, Freunde und Bewohner mit gelassener Freundlichkeit, entfaltet aus ihrer scheinbaren räumlichen Enge eine unglaubliche Menge benutzbarer Unter-, Ober-, Zwischen-und Winkelräume, ist warm, klein, nahrhaft, verzeiht in toleranter Nachlässigkeit mögliche Fehltritte und ist einem behaglichen Mutterleib nicht unähnlich.

Es ist allerdings nicht leicht und manchmal sogar sehr schwierig, den Weg in sie hinein zu finden. Oft sind weitläufigere düstere Vorräume zu überwinden, in denen riesige dunkle Schränke den richtigen Weg versperren und in schwarze Sackgassen führen, Fahrräder baumeln an den Wänden, unbestimmte Haufen von Kleidung und Schuhzeug quellen aus Ritzen und Ecken, und lange tappt der Besucher, Begrüßungsformeln murmelnd, herum, wird freundlich betastet und entkleidet, aber schon kommen andere Gäste, drängen sich, aneinander hängenbleibend, langsam durch den dunkel verstellten Vorraum, wickeln sich aus ihren Kleidern, stellen Taschen und Flaschen zu Boden, suchen sie dann, gebückt herumtastend, und erst nach langem, unruhigem Wortgewirr und unsicherem Stolpern und Tasten geraten sie in die helle, warme Küche.

Begrüßung und gesellschaftliche Umgangsformen, die sich in Europa glatt und geschickt abwickeln und eine Situation dermaßen perfekt for-malisieren, daß die Beteiligten leicht und fast ohne Anstrengung aneinander vorbei, durch sie durchgeschleust werden, sind in Rußland rauh, rissig, von unbestimmter Brüchigkeit, die individuelle Manifestationen erfordert, ohne ihnen eine feste Form zu bieten. Die Gebärden, mit denen die löchrige und weiche Umgebung aufgefüllt wird, sind deshalb oft zögernd, von tolpatschiger Unwissenheit, die nicht selten durch starke emotionelle Akzentuierung kaschiert wird, und können ins Maßlose ausgleiten. Obwohl formuliert, um die Situation zu festigen und zu füllen, bewirken sie doch oft das Gegenteil. Denn da sie fast keiner Gesetzmäßigkeit unterliegen, sondern hochindividuell sind, vervielfachen sie nur die räumliche Unbestimmtheit der Situation, reißen sie auseinander zu einem riesigen, schweren Nichts, deuten blitzartig komplizierte Verschachtelungen möglichen Benehmens an oder aber bilden einen warmen, festen Knäuel aus gegenseitiger Zuneigung und Solidarität.

Die Formlosigkeit der Begegnung läßt ihren Verlauf offen. Schnell versickernde, sich kaum entwickelnde Kontakte, die nur versuchsweise eine Zeitlang ohne spezielle Motivation betrieben werden, sind ebenso möglich wie eine momentan aufblitzende scheinbare Intimität, die allerdings rein hypothetischen Charakter trägt, ist sie doch nichts anderes als ein ganz persönlicher Entwurf, äußerst diffizil und kaum dafür gedacht, ihn für andere bewohnbar zu gestalten. Im Gegenteil, die Unbestimmtheit der Situation, die ja im übrigen für alle Beteiligten gilt, verführt eher dazu, in die Höhe zu bauen, statt in die Breite. Ein wunderschön kompliziertes Luftschloß also, das jeder unsichtbar auf dem Kopfe trägt, entsteht leichter als ein dem gegenseitigen Verkehr dienender Weg.

Der Kommunikationsprozeß ist viel weniger als im Westen durch eine enge Verquickung mit sozial, wirtschaftlich oder physisch begründeten Ritualen vorgeformt und rationell kanalisiert. Diese fehlende Wohlstrukturiertheit gesellschaftlicher Kontakte hat auch zur Folge, daß latent ein großes, ungestilltes Kommunikationsbedürfnis besteht, das ständig auf direkte, nichtrituali-sierte Befriedigung dringt — jeder hat Zutritt bei jedem, eine besondere Auswahl zu treffen ist nicht nötig, jeder ist gut genug, denn jeder ist als Mensch zur Kommunikation potentiell in höchstem Maße geeignet.

Im schwankenden Zwielicht des langen Winters, immer in der Gefahr, von den in ihr nimmermüdes Spiel vertieften pfeifenden Schneewirbeln verschlungen zu werden, stehen Menschen in kleinen Gruppen, schwach und unschlüssig, an den Rand eines in der Dunkelheit unermeßlichen Platzes gedrängt, ein wenig ratlos zuerst, und dann plötzlich sich mit Vorschlägen überbietend, tun kilometerlange Fußwege mit einem Achselzucken ab und achten nicht der Unbequemlichkeit einer langen, komplizierten Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie beginnen einen langen, endlosen Abend, gefüllt mit Helligkeit und Wärme und der Möglichkeit unzähliger intellektueller und persönlicher Verwicklungen. Irgendwelche Rationalisierungen solcher Begegnungen spielen nur wie ein zufällig vorbeiwehender Geruch manchmal herein, doch selten nur schiebt überhaupt jemand Geschäfte oder die Anknüpfung oder Fortführung einer persönlichen Beziehung als Grund vor.

Allerdings ist der Bedarf nach menschlichem Miteinander viel zu groß und zu allgegenwärtig, als daß auch nur eine geringe Aussicht bestünde, ihn adäquat zu stillen. Jeder geht herum, tief drinnen eingesponnen in einen1 riesigen Raum, der weglos ist, nicht mit einem recht oder schlecht geordneten System von Aus- und Eingängen und den dazugehörigen Verhaltensregeln versehen wie im Westen. Aus dieser riesigen Einsamkeit herauszukommen oder ihr eine akzeptablere Gestalt zu geben, ist uneingestandener Zweck der meisten menschlichen Bewegungen. Das regellose Sichaneinanderdrängen ist nur eine, allerdings recht augenfällige, diesbezügliche Geste.

Die laxe Zeitstxuktur des russischen Lebens ermöglicht ein gewaltsames, nicht selten über die Grenzen der Erschöpfung reichendes Aufblähen aller Kontakte. So entsteht aus dem Nichts einer zufälligen Begegnung eine Festlichkeit ungeahnten Ausmaßes, greift blitzartig um sich und zieht scheinbar in ihre Arbeit vertiefte, zufällig in der Nähe weilende Leute ohne Zahl an, die ihre wichtige Tätigkeit mit einem Abwinken ins Unbestimmte fortschieben und sich in schwerfälliger Gelassenheit hinsetzen, um lange nicht mehr aufzustehen. Ein Gespräch zu zweit, auf einem offenen Bahnhof oder bei einem Bierhütt-chen auf freiem Feld, hat oft die Tendenz, sehr schnell aus dem konventionellen Wortwechsel auszubrechen und in ein intimes Zwiegespräch, erfüllt von der Wärme menschlicher Solidarität, zu münden. Bei Angehörigen der etwas nervöseren Intelligenz artet es leicht in rücksichtslose Selbstentblößung aus, die nichts anderes ist, als eine mit letztem Mut erhobene Forderung nach Verständnis und Anerkennung. Dieser Anspruch überlebt sich aber bald von selbst, auch wenn das Gespräch bis zur völligen gegenseitigen Irritation fortgeführt wird, bis es sich in detaillierten, aber schon nebensächlichen Streitereien verliert.

Die nachlässige Toleranz und schwerfällige Zärtlichkeit, mit der die Menschen sich begegnen, schafft tiefe, weiche Räume, die Platz für alle und alles bieten. Holprig und zögernd entrollt sich der gemeinsam verbrachte Abend, die Essenszeremonie verfällt, bevor sie sich überhaupt entwickelt hat, dafür werden die Trinksprüche immer phantastischer und monströser. In Gesprächen kugeln sich seltsame Ereignisse zusammen, rollen weiter zum einen oder anderen, nehmen noch ungewöhnlichere oder lächerlich banale Formen an und sinken dann spurlos in sich zusammen. Bedeutungsvolle Diskussionen werden ausgesponnen und in gegenseitigem Einvernehmen liebevoll abgeschlossen. Schließlich läßt wachsende Müdigkeit den Abend langsam auseinanderbrechen, ohne ihn jedoch abrupt zu beenden, und nicht selten sind einige der Besucher zu unentschlossen, das gastfreundliche neue Heim zu verlassen und bleiben noch ein paar Tage oder werden gar für Monate feste Bestandteile des Hauses und versorgen es, von der Arbeit heimkehrend, täglich mit frischen Vorräten.

Der Alkohol spielt im geselligen Beisammensein gemeinhin eine viel geringere Rolle als in Europa angenommen wird, denn das härtere Klima des Landes und die weitmaschige Natur seiner Bewohner lassen auch größere Mengen fast spurlos versickern, Ihre Wichtigkeit als solche erhält die Flasche vor allem für den einzelnen, nicht als Attribut einer freundschaftlichen Begegnung, sondern als sehnsüchtig erwarteter Lichtblick am Ende eines Tunnels, durch dessen alltagsgraue Schwere er sich mit mühsamer Zielbewußtheit hindurcharbeitet. Der Russe trinkt hochprozentigen Alkohol in großen Portionen, das schlückchenweise Genießen des Weingeschmackes erscheint ihm lächerlich und kleinlich. Schnaps wird nicht genossen, sondern möglichst schnell und in ausreichender Quantität hinuntergegossen. Er erzeugt nicht gemütliche Gemeinschaftlichkeit, sondern beendet die Verlassenheit des einzelnen durch einen Akt der Transzendenz, versetzt ihn automatisch in einen „anderen Zustand“, in dem sich bestimmte systemimmanente Verhärtungen auflösen oder als solche ignoriert werden können. Betrunkene sind daher oft von gemütvoller Gutartigkeit und grenzenlos zufrieden in ihrem einfachen Glück. Es geschieht aber auch, daß sie, sobald der Zwang ethischer Gebote gefallen ist, die Deformationen des Systems, in dem sie leben, mit grausam bedrückender Konsequenz nachäffen.

Üble Nachrede als Akt gezielter Bösartigkeit ist selten — das Individuum ist viel zu unscharf dazu, es besteht nur zu einem geringen Teil aus einem festen Schema gesellschaftlicher Funktionen, die es in eine allgemeine Hierarchie einzuordnen erlauben, und stellt deshalb keine verlockende Angriffsfläche dar. Kaum aus dem Gesichtsfeld entschwunden, zerfällt es m ein

Sammelsurium bizarrer oder lächerlich-trivialer Anekdoten, welche von seinen Freunden und Bekannten aus Lust am Spiel gesponnen werden. Manchmal wachsen sich solche Anekdoten und die mit. ihnen verbundenen Ereignisse ins Riesenhafte aus und durchziehen als absurd geformte Schwaden gerüchtweise, das Land. .

Diese weitgehend amorphe Gestalt des gesellschaftlichen Lebens, die eine Unzahl gleichwertiger, schnell entstehender und ebenso schnell wieder zerfallender Beziehungen ermöglicht, hat jedoch auch ihre Kehrseiten, die als ultrastabile Varianten in Gestalt der behördlich-offiziellen Sphäre auftreten. Diese Sphäre ist von blöden, in stumpfer Sinnlosigkeit sich ständig wiederholenden Phrasen erfüllt, die mit harter Eintönigkeit auf das weiche Gefüge der Gesellschaft niederprasseln. Ein Entkommen aus dieser Sphäre ist kaum möglich — es sei denn durch einen kategorischen und nicht minder schmerzhaften Rückzug in den eigenen Innenraum.

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