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Eine steigende Flut

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Laut Angabe des Statistischen Zentralamtes haben in den Jahren 1958 bis 1968 nicht weniger als 16.000 katholische Cliristen die Kirche verlassen. Diese Austrittsbewegung, verläuft in fast ständiger Progression (1958: 8360, 1959: 8473, 1960: 9113, 1961: 9642, 1962: 9831, 1963: 10.558, 1964: 10.191, 1965: 10.551, 1966: 11.179, 1967: 12.072, 1968: 16.110). Welches sind die wahrscheinlichen Gründe für diese Kirchenflucht, die sich in einer Zeit vollzieht, in der weder eine äußere Bedrückung der Kirche in Österreich vorhanden ist, noch organisierte Gegengruppen politischer oder reliigiöser Natur eine Kirchenaustrittspropaganda betreiben? Außerdem exisitieren keine strukturellen sozialen Notstände, die man der Kirche anlasten könnte. Die politischen Parteien verhalten sich gegenüber der Kirche wohlwc^llend neutral. Vielleicht sind folgende Gründe für die Kirchenaustritte maßgdblich:

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Laut Angabe des Statistischen Zentralamtes haben in den Jahren 1958 bis 1968 nicht weniger als 16.000 katholische Cliristen die Kirche verlassen. Diese Austrittsbewegung, verläuft in fast ständiger Progression (1958: 8360, 1959: 8473, 1960: 9113, 1961: 9642, 1962: 9831, 1963: 10.558, 1964: 10.191, 1965: 10.551, 1966: 11.179, 1967: 12.072, 1968: 16.110). Welches sind die wahrscheinlichen Gründe für diese Kirchenflucht, die sich in einer Zeit vollzieht, in der weder eine äußere Bedrückung der Kirche in Österreich vorhanden ist, noch organisierte Gegengruppen politischer oder reliigiöser Natur eine Kirchenaustrittspropaganda betreiben? Außerdem exisitieren keine strukturellen sozialen Notstände, die man der Kirche anlasten könnte. Die politischen Parteien verhalten sich gegenüber der Kirche wohlwc^llend neutral. Vielleicht sind folgende Gründe für die Kirchenaustritte maßgdblich:

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1. Die Kirche befindet sich am Ende der konsitantinaschen Ära, einer Zeit des Staate-, Volks-, Traditionschristentums. Die gesellschaftliche Situation der Kirche ist zwar immer noch eine sehr günstige, sie genießt Vorzüge, die anderen weltanschaulichen Gruppen nicht zukommen (zum Beispiel obligater Religionsunterricht der anerkannten christlichen Konfessionen in den Schulen, Anerkennung der Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechtes, Einklagbarkeit der Kirchenbeiträge durch staatliche Gerichte usw.). Deshalb verblieben breite Schichten der Bevölkerung der Kirche, die ihr innerlich längst entfremdet waren und die praktisch weder an der Liturgie noch am son-

stigen Leiben der christlichen Gemeinde teilnahmen. Uber die eigentliche Uberzeugung dieser Schichten liegen nur örtlich begrenzte und auch ihren Fragestellungen sehr eingeschränkte Untersuchungen vor. Eine gesamtösterreichische wissenschaftliche Untersuchung steht noch aus. So stellt sich die Kirche faktisch als ein Konglomerat oder auch nur Agglomerat verschiedener christlicher oder diffus religiöser „Konfessionen” dar, die allerdings diesen Namen kaum verdienen, weil sie Innerkirchlich nicht organisiert sind und weil sich ihre Glaubensverständnisse selten artikulieren. Das Ende der konstantinischen Ära im Sinne eines Nachlasses der Ver-Idammerung von Kirche—Staat, Kirche—Gesellschaft bringt deshalb automatisch eine soziale Motivation in Wegfall, die früher für die Kirchenzugehörigkeit sehr maßgebend war.

2. Damit kann ein weiterer Grund für Kirchenaustritte gefunden werden: Die Traditionen der Vergangenheit, die besonders in dem staatskirchlich bestimmten Österreich christlicher Natur waren, schwinden mit dem allgemeinen Traditionsverlust in der Moderne. Sogar im bäuerlichen Raum, wo das Christentum bisher die Religion der „pagani” war, ändert sich die soziale Struktur der Landbevölkerung rapide. Nichtbäuerliche Schichten bilden sich aus und dringen in das „Land” ein, ein liberales Großbauerntum entfremdet sich der Kirche.

3. Das Phänomen der „Säkularisation” und des ideologischen Seku-larismus führt zu einer Kirchenentfremdung. Die Religion „verdunstet” in einer völlig weltlich gewor-

denen Welt; die Kirche und ihr Kult erhalten den Charakter der Überflüssigkeit.

4. Immer noch spielt das Verbot der Ehescheidung und einer zweiten kirchlichen Ehe durch die katholische Kirche vermutlich eine nicht unbedeutende Rolle bei den Kirchenaustritten. Religiöse Menshen, die eine kirchliche Sanktionierung ihres neuen Ehebündnisses wünschen, — wenden sich unter Umständen anderen christlichen Konfessionen zu, die eine solche zweite Ehe (wenn auch als Ausnahmefall) ermöglichen.

5. Die Kirchenbeiträge und die Form ihrer Einhebung sind ein immier wieder geäußertes, oft auch nur vorgeschütztes Motiv des Kirchenaus-trittes (obwohl dieser Faktor nicht überschätzt werden danf). Austritte an IS der Kircliengemeinischaft als einer juristisch funktionierenden Finanzorgandsation mit gleiobaeiti-gem Wunsch, in der Kirchengiemein-sohaft als spiritueller Genneinschaflt zu verbleiben, sind in Österreich noch kaum zu bemerken.

6. Politische Gründe für Kirchenaustritte sind höchstens bei einer extremen Linken und das vor allem im Bereich der Intellektuellen maßgeblich.

7. Da nur ein Bruchteil der Familien als christlich bezeichnet werden kann (wenn die Htern — durch ihren Wunsch nach Reiligionsunter-richt und zum Teil durch Tradierung von Gebeten — ihren Kindern immer noch ein größeres Ausmaß von Religiosität übermitteln wollen, als sie selbst besitzen) käme dem Religionsunterricht, der Kinder- und Jugendseelsorge, eine geradezu kerygma-tisch-misäionarische Bedeutimg zu; die igenannten Institutionen scheinen

‘diese Gewinnung der jeweils jungrai Generation fiu” die Kirche nur unvollständig leisten au können. Wenn anderseits trotz eines mehr als SOprozentigen Fembleibens der großstädtischen Bevölkerung von den sonntäglichen Gottesdiensten (im Gegensatz zu einer immer noch zwischen 90 und 100 Prozent liegenden Beteiligung von Kindern und Jugendlichen am Religionsunterricht der Pflicht- und Allgemeinbildenden Höheren Schulen) ein sehr hoher Prozentsatz der innerlich bereits aus der Kirche emigrierten Menschen äußerlich in der Kirche verbleiben, müssen auch für dieses Phänomen, das der Kirche eine große Chance bietet, Gründe gesucht werden. Vielledchit sind es folgende: 1. Die konstantinische Ära ist in ihren Nachwirkungen immer noch effektiv. 2. Es bietet sich (im Gegensatz zu dem mächtigen Freidenkerverband der zwanziger Jahre) keine „Gegenkirche” an. Die biblische Antwort der Apostel auf die provozierende Frage Jesu: „Wollt auch ihr weggehen?” nämlich: „Herr, wohin sollten wir gehen?” hat also auch heute noch Gültigkeit. 3. Es gibt kaum attraktive antikirchliche oder der Kirche konkurrenzierende geistige Bewegungen, die imstande wären, Menschen der Wohlstandsgiesell-schaft anzuziehen (vielleicht mit Ausnahme kleinerer Gruppen der äußersten maoistischen Linken).

4. Traditionalistische Rüdcsichten familiärer und gesellschaftlicher Natur sind immer nh wirksam.

5. Eine geheime (trotz der opulent lebenden Wohlstandsgesellschaft) unverkennbare Daseinsangst und die fast magisch wirkende Furcht vor Unheil und Unglücke bei Verlassen der Religion sind sicher sehr maßgeblich. 6. Menschen, die religiös sein wollen, finden faktisch nur in den christliehen Kirchen, vor allem, der kultisch orientierten katholischen Kirche, eine konkrete Betätigungsmöglichkeit ihrer Religiosität. Religion ohne Kult, Schrift und Gemeinde wird eben noch immer (mit Recht) als blaß und unzulänglich angesehen. 7. Zwar gibt es immer noch Menschen, die andere christliche Bekenntnisse (etwa die reforma-

torischen) für fortschrittlicher katholische Kirche ansehen, Im allgemeinen aber begnügen sich die innerlich dissidenten Katholiken mit einer nachchristlichen synkretisti-schen Religiosität die sie (besonders in der Großstadt) ungestört von der Seelsorge auch innerhalb der katholischen Kirche ausüben können.

Fazit: Für die Kirche am Rande der konstantinischen Ära in einer sich immer mehr säkularisierenden Welt, im Rahmen einer physisch saturierten und spirituell desinteressierten Wohlstandsgesellschaft, erhält der Vorgang einer inneren Mission entscheidende Bedeutung. Daß für diese Missionierung der altkirchlichen Gebiete in einer nachchristlichen Ära das traditionelle territorialgemeindliche Pfarrsystem und seine zum Teil noch ruralen Methoden nicht ausreichen, ist offensichtlich.

PS: Die Ausführungen Msgr. Mauers in seinem Artikel „Warum Flucht aus der katholischen Kirche?” scheinen einer Ergänzung zu bedürfen. Die Rede vom Ende cier fconstantinischen Ära ist schon zum Schlagwort geworden. Mancher mag daraus schließen, daß die Entfaltung der Kirche in der Vergangenheit völlig falsch verlaufen sei. Und damit berühren unr einen Punkt, über den wir in den Ausführungen Msgr. Mauers nichts lesen. Ist nicht ein Grund für die steigende Zahl der Kirchenaustritte auch darin zu suchen, daß von Vertretern der Kirche selbst das Image der Kirche zu düster gezeichnet wvrd? Dadurch werden Tnanche Schwachgläubige in ihrem Gesamtverhalten und damit auch im religiösen Verhalten eher labile Menschen völlig unsicher gemacht und verlieren jeden Halt. Dies müßte man wenigstens bei einer Analyse der Kirchenau^tritte auch einbeziehen. Es liegt also die Schuldan diesem bedauernswerten Zwstond nicht nur in der bisherigen Entwicklung der Kirche, sondern auch in der gegenwärtigen. Vielleicht wäre es nützlich, ja sogar sehr notwendig, die Fehler dieser gegenwärtigen Entwicklung zu untersuchen und einzugestehen.

ALOIS SCHROTT SJ

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