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Eine zeitlose Mahnung an den heutigen Zeitgeist

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Warum sollte es eigentlich politischen Klassikern anders ergehen als den oft zitierten Klassikern der Literatur? Der Titel des Werkes ist jedermann ein Begriff. Gelesen haben es - konkret darauf angesprochen — doch nur sehr wenige.

Das Werk Norbert Lesers „Zwischen Reformismus und Bolschewismus“ ist sehr bald nach seinem Erscheinen (1968) zu einem österreichischen Klassiker der Beschreibung politischer Phänomene, ihrer Psychologie und ihrer historischen Darstellung geworden. Wobei der historisch bedingte Ablauf doch immer wieder in seiner allgemein-politischen Bedeutung in Frage gestellt wird und so in der darauffolgenden Analyse an zeitloser Gültigkeit gewinnt.

Das Resümee verliert sich daher nie im Spekulativen, sondern zeigt legitimerweise auch andere Schlußfolgerungen auf, wie sie etwa von Karl Renner und anderen gegenüber der Argumentation von Otto Bauer vertreten wurden.

Wen nimmt es daher wunder, daß die Schlußfolgerungen Lesers nie als rein akademisch-historisch, sondern stets als im besten Sinn des Wortes politisch aufgefaßt wurden.

Die größte Sünde wider den Geist ist die Gleichgültigkeit. Diese Gleichgültigkeit, nicht selten in Kombination mit der bestimmenden Arroganz der Parteilagermentalität, verhindert aber die für Österreich so notwendige Kultur der Konfliktlösung, ohne die ein Austragen von Konflikten in einer Demokratie nicht möglich ist.

Der erwartete Konsens muß das Ergebnis und nicht die Voraussetzung einer Lösung, eines gesellschaftlichen Kompromisses sein. Erkannte doch schon ein so großer Sprachgewaltiger wie Hei-mito von Doderer den Konflikt als besonders sprachdienlich, da mit der Notwendigkeit verbunden, den eigenen Standpunkt klar und präzise formulieren zu müssen.

Einen wesentlichen intellektuellen Beitrag zur politischen Kultur unseres Landes hat Norbert Leser mit seiner, zunächst als Habilitation eingereichten Arbeit geleistet. Als Buch erschienen, fand seine Schrift von Anfang an großen Widerhall, Zustimmung, aber auch in der Folge gewollte und ungewollte Mißdeutung. Vorbeischwindeln aber kann sich seitdem niemand, der sich mit diesem Zeitabschnitt der

österreichischen Geschichte beschäftigt.

Hans Mayer, ehemals Ordinarius von Tübingen, reihte diese Arbeit zu den intellektuell aufregenden und erfrischendsten Habilitationen im ansonst sehr eintönigen und trockenen Blätterwald deutschsprachiger Habilitationsschriften. Damit soll auch auf den präzisen und ausformulierten Sprachduktus hingewiesen werden. Norbert Leser ist ja nicht umsonst Mitglied des österreichischen P.E.N.-Clubs. In Österreich bei Wissenschaftern, im Vergleich zu Frankreich oder den angelsächsischen Ländern, leider noch immer eine Ausnahme.

Kein „Grenzgänger“

Man hat Norbert Leser in den letzten Jahren in Anspielung auf seine gleichnamigen Publikationen (Wien 1981 und 1982) gerne als „Grenzgänger“ gesehen, der den Weg von der kritischen Linken seiner Studententage als Verfasser von Artikeln in der Verbandszeitschrift des „Verbandes Sozialistischer Studenten“ mehr und mehr nach rechts verschoben hat. Die eingehende Lektüre des nunmehr in zweiter Auflage vorliegenden Werkes läßt an der eindeutigen und auch nie verschleierten sozialistischen - in diesem Fall wirklich sozial-demokratischen — Position des Autors Zweifel aufkommen.

Im Hinblick auf die geführte Diskussion aus Anlaß der Jahrestage zum Juli 1927 und zum Februar 1934 ist die Lektüre der einschlägigen Kapitel den vorschnellen Kritikern fast verpflichtend vorzuschreiben. Der Vorwurf der These „der geteüten Schuld“ verfängt nämlich nicht. Vielleicht aber stört die differenzierte Beurteilung.

Diese Kritik aber richtet sich selbst. Lesers Reflexionen sind vielmehr eine Kritik an den damals herrschenden bürgerlichen Herrschaftsstrukturen und ihrem politischen Fühlen und Handeln. Er spart nicht mit Kritik an der eigenen Partei und ihrem unbewäl-tigten Konflikt von radikaler Phrase und Pragmatismus.

Wer das Werk Lesers studiert hat, wird nachdenklich sein. Auch im Hinblick auf die ÖVP.

In einer bemerkenswerten Analyse zeigt Leser den verhängnisvollen Weg der Oppositionsrolle der Sozialdemokraten in der 1. Republik auf. Nicht nur, daß sie ihre eigenen Wurzeln aus der Zeit vor 1918 leugnete, ja von sich selbst zu glauben begann, die Republik erfunden zu haben (was bedeutet denn eigentlich res publica?), sondern auch hin- und hergerissen war zwischen der Radikalität der Phrase und dem Pragmatismus der Alltagspolitik; daher auch keine Linie fand, die mehrheitsfähig war.

Dilemma der Opposition

Dieses Dilemma der Opposition ist freilich, wie sich schlüssig nachweisen läßt, kein Privileg einer Partei oder eines bestimmten politischen Lagers: Etwa die Forderung nach harter Oppositionsstrategie, griffigen Formulierungen via Presseaussendungen, Fernschreiben und andererseits dem speziellen Klima der Sozialpartnerschaft und der Regierungsverantwortung auf Länderebene.

Alois Mock müßte sich fragen: Wo bleibt ein solcher kritischer und letztlich doch loyaler Geist in der ÖVP?

ZWISCHEN REFORMISMUS UND BOLSCHEWISMUS. Der Austromarxismus in Theorie und Praxis. Von Norbert Leser. Verlag Böhlau, Wien-Graz-Köln 1985. öS 350,-.

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