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Einer, der nidit vergessen konnte

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Eigentlich wollte und sollte ich eine Kritik über sein letztes Buch schreiben. Aber als ich es las, kam mir so vieles in Erinnerung. Manches von dem, was in diesem letzten Roman erlebt und von Remarque in kaum verfremdeter Weise dargestellt wurde, manches, was wir zusammen erlebt haben. Und so schreibe ich heute, sicher gegen meine ursprüngliche Absicht, fast gegen meinen Willen, einige Erinnerungen an ihn auf.

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Eigentlich wollte und sollte ich eine Kritik über sein letztes Buch schreiben. Aber als ich es las, kam mir so vieles in Erinnerung. Manches von dem, was in diesem letzten Roman erlebt und von Remarque in kaum verfremdeter Weise dargestellt wurde, manches, was wir zusammen erlebt haben. Und so schreibe ich heute, sicher gegen meine ursprüngliche Absicht, fast gegen meinen Willen, einige Erinnerungen an ihn auf.

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Es war wohl 1928, entweder im Frühjahr oder schon im Herbst, als ich ihn kennenlernte. Es war auf der Pressetribüne des Berliner Sportpalastes während eines Sechstagerennens. Er gefiel mir nicht, und ich glaube, er gefiel damals überhaupt niemandem von denen, die später zu seinen Freunden zählten — wenige nur, denn Remarque war keiner, der sich leicht anfreundete oder gar befreundete. Er war ein bißchen zu elegant, man darf wohl sagen: snobistisch, und er trug, was in unseren Augen recht verdächtig war, ein Monokel.

Er schrieb wie ich über das Sechstagerennen. Aber er schrieb auch noch anderes oder hatte anderes geschrieben. Er erzählte mir von einem Buch, das er vor kurzem beendet hatte, einem Roman, dessen Manuskript bereits von einigen Verlagen an ihn zurückgeschickt worden war. Wer den Roman wohl herausbringen würde?

Ich wollte wissen, worum es gehe. Als ich erfuhr, daß es um den Krieg ging, der nun schon rund zehn Jahre hinter uns lag, lächelte ich herablassend: „Wenn Sie einen guten Rat von mir haben wollen, was mit dem Manuskript zu tun ist, zerreißen Sie es und werfen Sie es weg!“ äußerte ‘ ich. Zumindest dieser Satz wird von mir bleiben. Denn es handelte sich immerhin um „Im Westen nichts Neues“, ein Buch, dessen internationaler Erfolg bisher noch nicht erreicht worden ist. Niemand verstand recht den Erfolg des Romans. Dabei lag doch das Geheimnis des Erfolgs, das natürlich kein Geheimnis war, auf der Hand. Einer, der schreiben konnte, der mehr war als ein Sportredakteur oder auch nur ein Romanverfasser, sondern eben ein Dichter, hatte sein großes Erlebnis gestaltet. Das ging eben allen, die zu lesen verstanden, unter die Haut.

Damals schon hätte man eigentlich prophezeien können, wie das mit Remarque weitergehen mußte: nämlich, daß er niemals über dieses erste große Erlebnis hinwegkommen würde.

Die Welt begriff das nicht und begreift es auch heute noch nicht. Die Welt ist vergeßlich. Die meisten von uns, wenn sie überhaupt alt genug dazu waren (ich war es nicht), hatten den Krieg längst vergessen, abgeschrieben, waren darüber hinausgewachsen.

Und Remarque? Er lebte ja durchaus nicht wie einer, der eine große Tragödie hinter sich hatte. Er trug sich elegant, mit Monokel, wie gesagt, er lebte in Bars und, wie man sich erzählte, mit vielen schönen Frauen.

Aber seine nächsten Romane bestätigten, was man schon damals hätte spüren können. Er dachte immer noch an den Krieg und an das, was der Krieg aus den Menschen gemacht hatte. Sein zweiter Roman schilderte die Schwierigkeiten der Rückkehrer, der dritte, nach meiner Meinung der beste, den er geschrieben hat — Remarque freute sich immer, wenn ich ihm das sagte — „Drei Kameraden“, gestaltete Glück und Elend entwurzelter Existenzen in der Nachkriegszeit. Als dieser Roman erschien, war er schon nicht mehr in Deutschland. Er hatte sich von den Nationalsozialisten abgesetzt.

Damals fragten sich viele, warum er das eigentlich tat. Er war ja schließlich kein Jude. Gewiß, Goebbels war gegen seinen ersten Roman und dessen Verfilmung Sturm ge-

gelaufen, aber, wenn einer so blond war wie Remarque, wäre ein Burgfriede schon herzustellen gewesen. Für die Nazis — nicht für Remarque. Er mochte sie nicht. Er war zu zivilisiert, um an diesen Rauhbeinen Gefallen zu finden. Außerdem wußte er nicht recht, was Antisemitismus ist, nur daß er ihn verabscheute. Was er am meisten haßte, waren die Gewalttätigkeiten dieser Burschen, die ihn wieder an den Krieg erinnnern mußten und ja auch die Vermutung nahelegten — Remarque äußerte das schon, bevor Hitler an die Macht kam —, daß ein neuer Krieg bevorstand.

In fast allen seinen Romanen nach den ersten beiden gibt es eine Frau, die stirbt. Gibt es Menschen, die einsam sind. Auch das hatte mit Remarque persönlich zu tun. Der Tod und die Einsamkeit — davon kam er nie weg. Der Tod eines geliebten Menschen ließ den Partner allein zurück. Noch einsamer, als er vorher gewesen war.

Remarque hatte ein Mittel gegen die Einsamkeit: er trank. Er wußte, er konnte nur versuchen, gelegentlich zu vergessen. Er kam sich ebenso gescheitest vor wie die Helden seines dritten Romans. Er wußte, er gehörte zu jener „verlorenen Generation“. Er fand das auch nicht schlimm, so wie etwa Hemingway, der sich in späteren Jahren ganz energisch dagegen verwehrte, einer der „Verlorenen“ zu sein.

Manchmal hatte man den Eindruck, als läge ihm wenig am Leben, ja, daß er dachte, nicht mehr lange auf dieser Erde zu weilen. Einmal sagte er zu mir (ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Es war damals, während des Krieges, ein Zufall, daß ich am Leben blieb. Der liebe Gott wird das schon demnächst wieder in Ordnung bringen.“ Es gab auch Zeiten, in denen er sehr gerne lebte. Aber er tat nicht sehr viel, um sein Leben zu verlängern.

Als der Krieg, der zweite, immer näher kam, saß er in seinem Haus am Lago Maggiore und dachte gar nicht daran, die Schweiz zu verlassen. Einige seiner Freunde rieten ihm dringend, in die Vereinigten Staaten zu gehen, denn, so vermuteten sie, wenn die Nationalsozialisten die Schweiz besetzten, würde er — inzwischen weltbekannter Hitlergegner — am ersten Laternenpfahl aufgeknüpft werden.

Er ging erst, als es schon fast zu spät war. Und nur durch besondere Beziehungen seiner Freunde war es möglich, ihn via Lissabon in die Vereinigten Staaten zu schleusen. Er wäre ja auch in der Schweiz davongekommen.

Aber kam er überhaupt davon?

Er war nun ein Emigrant von vielen. Und was ihm in der Schweiz vielleicht noch nicht ganz klar geworden war, er konnte ja glauben, daß Hitler eines Tages erledigt sein und er selbst nach Deutschland zurückkehren würde, wurde ihm jetzt unendlich klar. Schon deshalb, weil er nur mit Europäern, also Emigranten zusammenlebte. Andere Prominente versuchten mit den Amerikanern zu leben. Nicht so Remarque. Damals sagten wir einander viel. Seine Wohnung, in der 57. Straße zwischen der ersten und zweiten Avenue, war genau zwanzig Meter von der meinen entfernt. Wir trafen uns auf der Straße, beim Zeitungsstand, im Delikatessengeschäft, in einem der zahl losen kleinen Restaurants. All dies hat er in seinem letzten Roman beschrieben. Er war in Gesellschaft von ehemaligen Deutschen — Journalisten, Schauspielern, Schriftstellern, Musikern. Sein Englisch wurde niemals auch nur erträglich.

Damals war es, daß ihm die Ärzte rieten, vom Alkohol zu lassen. Er dachte nicht daran. Er lief ja niemals davon. Er hätte wohl nicht einmal zu trinken aufgehört, damals jedenfalls nicht, wenn man ihm gesagt hätte, daß er dann sehr schnell sterben Würde: Übrigens, daß er nicht schnell starb, war ein medizinisches Wuinder, zumindest für seine Ärzte.

Er war nicht glücklich. Er begriff nun vollends, daß er eben nie davongekommen war und nie davonkommen konnte. Da ist sein erstes großes Erlebnis, das Kriegserlebnis, nun wieder fast nah durch das zweite, das Emigrationserlebnis. Er schrieb nur noch über Emigranten. Er löste sich damit auch schriftstellerisch von den Deutschen. Er hielt sich selbst für schuldig oder mitschuldig — und seine Bücher stellten für ihn eine Art Sühne dar.

Ironie des Schicksals. Er wurde beneidet. Er hatte ja immer Glück gehabt. Nicht nur, daß sein erster Roman eine Weltsensation geworden war, er verdiente Millionen zu einer Zeit, da andere schlecht daran waren. Und er kaufte sich infcftge- dessen für relativ wenig Geld die kostbarsten Bilder, Teppiche und Möbel. Als Amerika in den Krieg eintrat, verlieh die Universal, die einst „Im Westen nichts Neues“ verfilmt hatte, den Film von neuem — um festzustellen, daß die Rechte an Remarque zurückgefallen wären. Resultat: eine halbe Million Dollar Abstand, die er nicht einmal verlangt hatte. Oder er schrieb für viel Geld ein Expose für einen Film, der dann in Hollywood nicht gedreht wurde. Ein deutscher Verlag, der unbedingt einen Roman in Fortsetzungen von ihm haben wollte, bekam schließlich das Expose zu sehen und druckte es ab. Das Werk, die Geschichte eines Rennfahrers, wurde auch als Buch ein Bestseller und ein Riesenbestseller in Amerika.

Aber dies alles machte Remarque nicht glücklich.

Er schrieb schwer und nicht gerne. Er schrieb prinzipiell nur mit einem Bleistift und hielt jeweils den Radiergummi bereit, um auszulöschen, was ihm nicht gefiel. Er bastelte tagelang an einem Satz und am letzten Roman mehrere Jahre. Einigemale sagte er mir, er würde mir daraus vorlesen. Es kam dann nicht dazu. Er erzählte mir jedoch, was die eine oder andere Szene enthielt. Es handelt sich immer um die 57. Straße, um unsere Straße. Er lächelte: „Erinnerst du dich noch?“

Er hatte ein besseres Gedächtnis als ich.

Eines Tages kam er nach Zürich — das sind jetzt auch schon 15 Jahre hen Er hatte ein Theaterstück geschrieben, sein erstes und einziges. Und darin sah er auch eine Rolle für Käthe Dorsch. Ich möge ihm doch die Bekanntschaft mit ihr vermitteln. Ich ließ mir das Stück erzählen. Dann sagte ich ihm: „Käthe Dorsch ist doch Mitte sechzig!“

Er sah sie immer noch, wie er sie zuletzt gesehen hatte: eine Frau von Mitte dreißig, die aussah wie zwanzig. Am gleichen Abend ging er ins Schauspielhaus in Zürich und sah das „Requiem für eine Nonne“ mit meiner Frau, der Schauspielerin Heidemarie Hatheyer.

„Also, das ist sie!“

Sie spielte dann auch sein Stück, „Die letzte Station“.

Er war der einzige Mensch, der einem postwendend auf einen Brief antwortete, und immer mit der Hand. Er konnte stundenlang telephonieren. Ich hatte das Gefühl, daß diese Briefe und die Telephonate damit zusam menhingen, daß er jede nur erdenkliche Ausrede suchte, von seiner jeweiligen Arbeit loszukommen.

Aber vielleicht war es auch die außerordentliche Höflichkeit, die ihm angeboren war, und die Bescheidenheit, die von Herzen kam. Er las jede Zeile seiner Freunde, und ich glaube, er kannte meine Bücher besser, als ich selbst sie kannte. Und er gab mir Ratschläge. Er kargte nicht mit Beifall, aber auch nicht mit Kritik. Er war eben ein Freund.

Das Ende, nun ja, wir alle, die wir ihm nahestanden, hatten es kommen sehen. Er litt sehr. Und er wußte, daß er sterben würde. Ich habe noch seinen letzten Satz im Ohr. Das war, als er mit mir von einer Zürcher Klinik telephonierte, wohin er gefahren war — mft Hoffnung. Er sagte

— und das klang, als spreche er schon aus einer anderen Welt —: „Sie haben mir nicht helfen können, Gurt.“ Ein paatr Tage später war er tot.

Und nun erschien sein letztes Buch, und es ist genau das, was wir von ihm erwarteten: das Buch eines großen Einsamen in einer Welt von vielen Einsamen. Eines Emigranten in der Welt der Emigranten, die alle nie davon loskommen, Emigranten zu sein. Man darf das Buch ruhig neben den Werken Flauberts oder Turgenjews erwähnen. Ein Roman der Verzweiflung — von vollendeten Formen.

In Amerika, in England, in Frankreich, ja, in den nordischen Ländern hatte man Remarque immer außerordentlich geschätzt, in Deutschland eher abschätzig beurteilt. Ein Dichter, der Geld verdient, war eben kein Dichter. Und jetzt fragen sich viele: Warum wurde er so wenig geehrt? Warum hat man ihm zum Beispiel niemals die deutsche Staatsbürgerschaft wieder angeboten, die ihm von Hitler genommen worden war? Warum nicht die Ehrenbürgerschaft von Berlin verliehen, wie Freunde von ihm es vorschlugen? Es kann doch nicht nur an der Dummheit des betreffenden Bürgermeisters oder stellvertretenden Bürgermeisters gelegen haben?

Ich glaube, es hängt damit zusammen, daß man ihn noch nicht recht versteht — ich meine natürlich, daß man seine Werke noch nicht recht versteht. Aber der Tag wird kommen, da man diejenigen nicht recht verstehen wird, die Remarque nicht recht verstanden haben, als er noch lebte.

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