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Einfach rundum reformbedürftig

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Kommen die Verfassungsrichter ihrer Schutzaufgabe im Interesse der Bürger gegenüber den politischen Mächten nach? Die Rechtsstaatlichkeit steht auf dem Spiel.

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Kommen die Verfassungsrichter ihrer Schutzaufgabe im Interesse der Bürger gegenüber den politischen Mächten nach? Die Rechtsstaatlichkeit steht auf dem Spiel.

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Schon die Organisation des Verfassungsgerichtshofs ist reformbedürftig, damit er seine Schutzaufgabe gegenüber den von ihm zu kontrollierenden politischen Mächten hinreichend erfüllen kann.

Der Verfassungsgerichtshof ist das einzige österreichische Gericht, dessen Mitglieder ohne öffentliche Ausschreibung im Wege eines politischen Geheimverfahrens gekürt werden.

Dazu ist der Verfassungsgerichtshof der einzige österreichi sehe Gerichtshof, dessen Mitglieder von den Prozeßparteien nicht wegen gesetzlicher Ausgeschlossenheit oder Befangenheit abgelehnt werden können. Ihm gegenüber scheint daher das völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Gebot der Unparteilichkeit eines Gerichtes nicht gesichert.

Die Verfassungsrichter sind auch verfassungsrechtlich bedenklicherweise von der Amtshaftung ausgenommen. Sie sind nur nebenberuflich tätig, aber beamtenähnlich und gegenüber anderen österreichischen Höchstrichtern des Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofs in vielfältiger Weise privilegiert.

Der Organisation und dem Verfahren des Verfassungsgerichtshofs haften aber auch sonst etliche Mängel an. Obwohl der Verfassungsgerichtshof stets im Plenum zu entscheiden hätte und eine Verfassungsbestimmung wie für den Verwaltungsgerichtshof, wonach dieser in Senaten erkennt, nicht existiert, unterhält der Verfassungsgerichtshof einen „großen“ und einen „kleinen Senat“.

Die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit der Abgrenzung zwischen diesen beiden „Senaten“ ist seit langem erkannt. Die Bestimmung des Verfassungsgerichtshof-Gesetzes, wonach der Präsident dem Vizepräsidenten, abgesehen vom Verhinderungsfall, den Vorsitz bei Verhandlungen und Beratungen ohne nähere Determinierung übertragen kann, ist gleichfalls seit langem als höchst fragwürdig erkannt.

Bedenklichkeiten Wie diese führen zur permanenten Verlet zung des Rechtes auf die gesetzlichen Richter. Die vom Verfassungsgerichtshof selbst beschlossene und von ihm selbst zu reformierende Geschäftsordnung aus dem Jahre 1946 bezieht sich auf Gesetzesbestimmungen, die nicht mehr gelten.

Seit langem war vorauszusehen, daß eine nur nebenberuflich und auch nur „sessionsweise“ ju-dizierende Richterbank eines Tages „überlastet“ sein werde. Eine naheliegende Reform, nämlich die ohnedies seit Einführung der Totalverwaltungsgerichtsbarkeit im Jahre 1876 überholte sonder verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs zur Entscheidung über Beschwerden wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte zugunsten des Verwaltungsgerichtshofs zu beseitigen, wurde nicht gewagt. Desgleichen nicht, die Verfassungsrichter angesichts ihrer ohnedies schon gegebenen Beamtenähnlichkeit auch offen als beamtete Berufsrichter einzusetzen.

So wurde dem Verfassungsgerichtshof — seinem Wunsch gemäß — zunächst mit einer Bundesverfassungsnovelle vom 3. Juli 1981 in Abhebung von allen in Österreich bisher geläufigen Rechtsformen die Befugnis zur verfahrensfreien Repulsion (Zurückweisung, Anm. d. Red.) von Grundrechtsträgern eingeräumt. Dadurch wurde der Verfassungsgerichtshof ermächtigt, die Behandlung einer Beschwerde bis zur Verhandlung durch Beschluß abzulehnen, „wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“ hat und sie dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten.

Auf heftiges Drängen des Verfassungsgerichtshofs — gegen den ursprünglichen Widerstand der Bundesregierung - erging sodann in einem parlamentarischen Schnellverfahren eine weitere, sogar auf den 1. Jänner 1981 rückwirkende Bundesverfassungsnovelle vom 26. Juni 1984, mittels derer der Verfassungsgerichtshof ermächtigt wurde, sich seiner Rechtsschutzaufgabe hinsichtlich der Menschenrechte und Grundfreiheiten in noch weiterem Maße im Wege eines kurzen Prozesses mit einer formelhaften Begründung zu entziehen: die verfahrensfreie Repulsion wurde auch auf den Fall ausgedehnt, daß „von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist“.

Wirft man den Blick auf die Materialien des Gesetzes, so ist durch die sehr unklare Ausdehnung der verfahrensfreien Repulsion auf den eben erwähnten Fall anscheinend eine Ermächtigung des Verfassungsgerichtshofes zu verstehen, eine Beschwerde auch ohne Begründung abzulehnen, wenn gerade die Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes nach der bisherigen Rechtsprechung offensichtlich gegeben ist.

Somit steht zu befürchten, daß durch die gegenwärtig in Geltung stehenden bundesverfassungsge-' setzlichen Ermächtigungen des Verfassungsgerichtshofs zur verfahrensfreien Repulsion von Grundrechtsträgern nicht nur das „Rechtsschutzsystem“, sondern auch die bisherige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zum Inhalt der Menschenrechte und Grundfreiheiten in entscheidendem Maß berührt wird.

Betrübliches Resultat

Was also feststeht, ist die „Entlastung“ des Verfassungsgerichtshofs durch Abbau seiner umfassenden Verpflichtung zur Begründung seiner Entscheidung zu Lasten der Rechtschutz suchenden Menschen.

Dieses Resultat ist mehr als betrüblich. Es ist mit dem Verständnis eines dem Recht unterworfenen (angesichts der Befreiung von der Amtshaftung ohnedies nur sanktionslos, also bloß ethisch verantwortlichen) obersten Gerichtsorgans unvereinbar.

Daß der exzellente Jurist, der als Leiter des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramtes offenbar für die Bundesregierung eine Belehrung in Sachen Repul-sionsrecht entwarf, nun als Präsident des Verfassungsgerichtshofs die rechtsfremden Repulsionsent-scheidungen zu unterfertigen hat, ist die Tragik eines Juristenlebens.

Der Autor ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Innsbruck und Justizminister a. D. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats bei der Tagung „Bürgerschutz 2000“ in Innsbruck.

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