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Eingang Hintertürl

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Es war Anfang Mai 1945, wenige Tage nach dem Neubeginn im Wiener Rathaus. Der 1. Mai war bereits im Zeichen der Befreiung gefeiert. Vom Ende des Tausendjährigen Reiches blieben tausendfache Not, tausendfaches Elend, der Hunger war unbeschreiblich. Und diese Gespenster sind auch 35 Jahre nachher nicht vorstellbar. Die Stadt war zerstört wie nie zuvor. Da kam ein Brief vom provisorischen Staatssekretär Für Ernährung in der auffallend viele Mitglieder zählenden Provisorischen Regierung.

Die Botschaft erreichte nicht nur mich als provisorischen Wiener Stadtrat Für Kultur und Volksbildung, sondern auch alle meine Kollegen, Mitglieder des Wiener Stadtsenates bzw. der Landesregierung. Auf dem Umschlag stand „Streng vertraulich”, das Wort streng war rot unterstrichen. Den Brief hatte ein Bote aus dem Staatssekretariat einem meiner Amtsgehilfen, dem getreuen Plemenig, übergeben und war gleich wieder verschwunden. Plemenig brachte den Brief in mein Zimmer und machte schnell kehrt, nachdem er „Streng vertraulich” mir zugeflüstert hatte.

Ich sagte: „Bleibn S' nur da, streng vertraulich heißt doch, daß bei der Öffnung des Briefes auch wer dabei sein kann.” Auf einem Zettel teilte der Staatssekretär mit, daß der Empfänger einiges abholen solle für seinen eigenen Gebrauch, nur Für diesen. Es war etwas, das zum Wichtigsten in der damaligen Notzeit gehörte. Köstliches und Kostbares zugleich. Wer die lange Liste der rettenden Mittel zur Lebenserhaltung las, da mußte das Wasser im Mund zusammenrinnen.

Der Abholer möge eine bestimmte Anzahl von Flaschen und Gefäßen mitbringen. Für Speiseöl, Butter, Schmalz, Marmelade. Abzuholen sind ferner Fleischkonserven, Würste, Brotlaibe, Wodka, Rot- und Weißwein. Dann warteten noch Fischkonserven, Teigwaren, Schokolade, Kakao, Kaviar. Herz, was begehrst du noch mehr?

Im vertraulichen Schreiben wurde mitgeteilt, daß sein Empfänger die Lebensmittel persönlich abzuholen habe. Es empfehle sich, kleinere Kisten mitzubringen, damit die Lebensmittel aus dem Depotraum leicht zum Fahrzeug befördert werden können. Abholungsort im Staatssekretariat für Ernährung im ersten Bezirk, Am Hof Nr. 3. Da habe ich mich erinnert: Es war das Gebäude, in dem früher einmal die Vaterländische Front ihre Zentrale hatte.

Ausdrücklich vermerkt war in dem vertraulichen Brief, daß nicht der Haupteingang zu benützen sei, sondern ein Eingang auf der Hinterseite.

Fast hätte ich jetzt, 35 Jahre nach dem überraschenden Aviso, vergessen, was noch auf dem Zettel stand. Der Ernährungsstaatssekretär hat mitgeteilt, daß die Provisorische Staatsregierung hiemit eine Lebensmittelspende des Oberkommandos der Roten Armee nur weiterleite, und zwar an die Mitglieder der Bundes- und der Wiener Landesregierung.

Meinen höchstrangigen Beamten, Obermagistratsrat Dr. Kraus, ersuchte ich, gemeinsam mit dem Amtsgehilfen Plemenig den Transport vom Staatssekretariat ins Rathaus mit Hilfe eines Handwagerls in die Wege zu leiten, die Lebensmittel in mein Büro zu bringen und dann dafür zu sorgen, daß sie unter dem Personal vernünftig und gerecht aufgeteilt werden.

Nach Dienstschluß wurde aufgeteilt. Jede unsachliche Bevorzugung sollte vermieden werden. Bestimmt keine leichte Aufgabe, damals hatte jeder Hunger. Und die Zahl derer war unfaßbar groß, die am Verhungern waren. Das menschlich Ergreifende habe ich und haben auch meine Mitarbeiter darin gesehen, daß nicht der geringste Streit, keinerlei Unzufriedenheit, keine Beschwerden bei der Verteilung sich ergaben.

Der Schlüssel der Aufteilung wurde als selbstverständlich anerkannt. Begreiflich, daß bei der großen Anzahl des Personals meiner Verwaltungsgruppe „Kultur und Volksbildung” auch mancher sehr Bedürftige zunächst übersehen wurde. Einer der Mitarbeiter rief aus: „Hoffentlich kommt bald Nachschub aus dem Ernährungsamt oder von sonstwoher!”

Tatsächlich kam so ein vertrauliches Brieferl schon im nächsten Monat, es kamen noch etliche während des Jahres und im folgenden Jahr. Wahrscheinlich haben die Spender angenommen, daß die Regierenden ihre besonderen Aufgaben nur dann erfüllen können, wenn sie Ernährungszuschüsse erhalten.

Daß ich dieses Privileg nicht für mich persönlich in Anspruch nahm, war nicht zuletzt deshalb selbstverständlich, weil ich in meinem bisherigen Leben genug Gelegenheit hatte, Not und Elend kennenzulernen. Das war mein Glück. Vielleicht waren daher sogar meine glücklichsten Lebensjahre meine KZ-Jahre. Da konnte ich, wenn ich über mehr Mittel, gemeint sind Geldmittel, als meine Mithäftlinge verfügte, nach Herzenslust austeilen, verteilen.

Die SS hatte Interesse, den Häftlingen in der Lagerkantine Waren verschiedener Qualität, auch minderwertige, sogar schon fast ganz verdorbene (diese wurden als Junktim verkauft) anzubieten. Daher gestattete sie, daß den Häftlingen regelmäßig Geldbeträge von ihren Angehörigen überwiesen werden konnten.

Da ich glücklicherweise genug Gesinnungsfreunde hatte, die das Geld für mich aufbrachten, konnte ich es bzw. Lebensmittel dafür selbstverständlich mit Mithäftlingen teilen. Nebenbei bemerkt: Meine Mitteilsamkeit mußte ich sogar „büßen”. Als mein Lagerkonto eine beträchtliche Höhe erreicht hatte, weit über den monatlichen Auszahlungsbetrag hinaus, ließ ich, mit Unter-

Stützung einiger Mithäftlinge, in dem dafür zuständigen Kommando von meinem Konto auf neue Konten mittelloser Häftlinge Beträge überweisen.

Das wurde von der Lagerleitung entdeckt. Es trug mir 80 Doppelschläge auf den nackten Hintern ein, dazu noch 40 Tage Spezialarrest. Zum Glück nicht mehr, denn ich hätte Ärgeres nach dortigem Brauchtum dazubekommen können. Ich konnte die Strafe überstehen und habe daraus gelernt, wie man noch besser verteilen müßte.

Der Ernährung als einer wesentlichen Grundlage für jedes kulturelle Streben und Wachsen wird niemand widersprechen. Wenn der Kulturstadtrat sich um zusätzliche Ernährung kümmerte, um der geistigen, der kulturellen Entwicklung besser auf die Beine zu helfen, so wollte er damit nur zum Ausdruck bringen, wie unerläßlich gewisse Prioritäten sind, die oft vernachlässigt werden.

Eine Vermehrung von Nahrungsmitteln besorgte ich größtenteils mit Hilfe von Briefen an alte und neue Freunde im Ausland. Adressen von Emigranten aufzuspüren, war meine Leidenschaft. Da im neuerstandenen Österreich die Bundesregierung und die Landesregierungen, trotz meiner ständigen Mahnungen, unterlassen hatten, die durch Hitler Vertriebenen zur Heimkehr offiziell und direkt einzuladen, sollten meine Briefe da nachhelfen.

Jeder Brief aus dem Ausland, der meinen Brief beantwortete, enthielt weitere Adressen, die für neue Briefe in Betracht kamen. Meine Einladungsbriefe waren auch Bittbriefe. Lebensmittelpakete begannen hereinzufließen, aus Bächen wurden Ströme. Nach einem eigenen Organisationssystem, nach Graden der Bedürftigkeit wurden sie selbstverständlich unter Menschen, die in den verschiedenen Kulturbereichen arbeiteten, verteilt.

Natürlich war ich nicht der einzige im Stadtsenat, der außerhalb der dürftigen Normalernährung solche Lebensmittelzufuhren initiierte und organisierte. Vorbildlich auf diesem Gebiet war z. B. mein Kollege Beppo Afritsch, der im besonderen aus der Schweiz und aus Schweden ganze Hilfszüge nach Österreich lenkte.

Meine Lebensmittelbeschaffung und die dazu nötigen Briefe betrachtete ich als eine wesentliche Arbeit für das Kulturwachstum. Etwa nach dem uralten Grundsatz: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.” Und alles, was Kultur ist oder so heißt. Selbstverständlich wurde ich auch ausgelacht, mißverstanden, beschimpft, und - warum auch nicht? - der Korruption verdächtigt. Kein Grund zur Entmutigung. Im Gegenteil, die Briefschreiberei wurde ex- und intensiviert. Je unkonventioneller desto wirksamer, war eine meiner Parolen. In dieser Art habe ich wahrscheinlich auch diese Zeilen über Einladung der „FURCHE” geschrieben.

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