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Einige Vorschläge zu allerlei Identifikation

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„Die Identifizierung. Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den anderen vorzustellen. Wenn der andere sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn, oder aber er verwandelt sich in ihn selbst." (Roland Barthes: Der Mythos heute)

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„Die Identifizierung. Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den anderen vorzustellen. Wenn der andere sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn, oder aber er verwandelt sich in ihn selbst." (Roland Barthes: Der Mythos heute)

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Mittwoch, der 19. Februar 1992, gerät für Hans Haider zum denkwürdigen Tag. Eng geschmiegt an die Doppelspalte des Terminators unter den österreichischen Kolumnisten erscheint sein ursprünglich in der „Presse" abgedruckter, „bemerkenswerter" (sie!) Artikel Jack the ...?" in der „Neuen Kronen Zeitung", -auszugsweise - doch sehe man dies nach, denn der Platz ist knapper im Kleinformat als im „großen Horizont"; außerdem ist das auf jener Seite elf aus dem Körbchen lugende Kätzchen („my home is my castle") wahrhaftig entzuckend und begreiflicherweise unverzichtbar. So oder so, Urtext oder Zusammenschnitt: der als kritische Erörterung des Einflusses der Politik auf Kultur und Medien angelegte Text gerät zu einem zynisch-aggressiven Rundumschlag, der vorerst Ratlosigkeit erzeugt und schließlich nötigt, sich vorsichtig dem Verfasser zu nähern, um ihn aus seinem Dämmerzustand zu erlösen: „Lieber Hans Haider, Sie sind es immer noch! Nehmen Sie sich wieder wahr!"

Identität ist, was einen glauben läßt, man sei an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt derselbe wie an einem anderen Ort zu einem anderen Zeitpunkt. Identität wird wesentlich geboren aus der Identifikation mit Menschen, die sie bereits besitzen, das heißt, augenscheinlich und aller Veränderung der äußeren Umstände zum Trotz dieselben bleiben. In einer Welt, die sich völlig bestimmt aus der exponentialen Zunahme ihrer Veränderungsgeschwindigkeit, das heißt, in der immer schneller alles anders wird, wird Identität zur Mangelware. Demzufolge: Wan-ted-Identifikationsobjekt!- Wie jede Rarität stehen Menschen, die sich unbeirrbar konstant präsentieren, hoch im Kurs, es herrscht sozusagen ein Identifikationsg'riß um sie. Ein unbeirrbar konstanter Täter ist unbeirrbar konstant, daher selten, daher begehrt. Mehr noch: durch das Spezifi-kum seiner Konstanz, die Täterschaft, die unbändig an verbotene, verdrängte, abgespaltene Anteile des Identifikationssuchenden appelliert, gewinnt der Täter eine Identifikationsattraktivität, die es sofort völlig ausgeschlossen erscheinen läßt, daß er in Wahrheit vielleicht gar kein unbeirrbar konstanter Täter ist. - Weniger kompliziert: Lieber Jack Unterweger, wir brauchen dich als Serienmörder! Tue uns daher ja nicht die Enttäuschung an, keiner zu sein!

Jedem sein Jack U. Jedem sein Serienmörder-Identifikationsmodus. Es gibt deren mehrere. Ich möchte sie hier einteilen in fünf Gruppen:

1. Die direkten Identifikationsmodi oder: „Ich bin der Täter, weil der Täter in Wahrheit ein Opfer ist."

□ Gewissermaßen auf der Hand liegt die Form der primitiven Identifikation: Endlich setzt da einer den Gedanken in die Tat um, der schon lange im Käfig meines Hirnes der Befreiung harrt: Das ganze Hurengesindel gehört abgeschlachtet! Der Mörder wird zum Opfer einer falschen Meinungsbildung, denn in Wahrheit gebührt ihm ein Orden für Verdienste um die Reinhaltung der Menschheit.

□ Eine Spur mehr Differenziertheit verlangt es, sich trivial-psychoanaly-tisch mit dem Täter zu identifizieren: Ein armer, vaterlos aufwachsender Junge, den seine kalte, beziehungsunfähige Mutter erniedrigt, gepeinigt und zum Massenmörder gemacht hat.

□ In den sentimentalphilosophischen Bereich gehört der literarisch-ideali-sierende Identifikationsmodus: Da er schreibt, kann er es nicht gewesen sein! Er ist imstande, Gefühle zu Papier zu bringen, infolgedessen hat er seine Gefühle im Griff. Die Macht über das Wort bedeutet die Macht über den Affekt. Sublimierung über Literatur kann nur gelungene Sublimierung sein. Außerdem weiß jeder Literat, daß die für ihn einzig mögliche Art der Tötung die Selbsttötung ist. Jedenfalls: da Schreibende hierzulande generell verfolgt und denunziert werden, wird auch Jack Unterweger verfolgt und denunziert.

2. Die indirekten Identifikationsmodi oder: „Ich bin das Opfer, weil es mir verboten ist, der Täter zu sein." Sie werden vonjenen Leuten gewählt, die ihre eigenen Täteranteile in einem Schließfach ihres Unbewußten versperrt und den Schlüssel im Beichtstuhl oder auf der Analysecouch vergessen haben.

Die Identifikation kann stattfinden

□ mit den Mordopfern: Die Prostituierten haben endlich ihre eigene, stillschweigende Zustimmung zu einem Dasein als Geächtete aufzugeben und in organisierter Form mit ihrem Anspruch auf Rechte an die Öffentlichkeit zu treten. Insbesondere auf ihrem Recht auf Sicherheit sollten sie bestehen und sich nicht weiterhin darauf verlassen müssen, daß der Zuhälter zur Stelle ist, wenn sich um den Hals die Strumpfhose strafft.

□ mit der Mutter: Wie soll eine Frau, die durch ihr soziales Elend auf den Strich getrieben und vom amerikanischen Schwängerer schmählich im Stich gelassen wird, ein Kind erziehen? Wie verhält sie sich angesichts der Alternative, dem Knaben entweder mit ihren dürftigen Ressourcen zur Verfügung zu stehen und ihn zu behalten oder ihn sich vom Jugendamt rauben zu lassen? Wie trägt sie die Schuld aller Mütter dieser Welt (die letzte Schuld tragen immer die Mütter), die ihr angesichts der Karriere ihres Sohnes aufgeladen wird?

□ mit dem Hofrat Schreiner, Gott hab ihn selig: Der arme, alte, kranke, tote Mann soll froh sein! Grenzenlose Kränkung erspart er sich, braucht sie nicht mehr hinzunehmen, die Enttäuschung seines Lebens. Man stelle sich vor: Der einzige Verbrecher, der sich auf Grund von Geduld, Nachsicht, ja geradezu Güte in etwas Herzeigbares gewandelt hat, in einen Adoptivsohn gewissermaßen... der Herr Hofrat wird schon blaue Flecken haben vom vielen Sich-im-Grab-Umdrehen.

3. Der kriminal-voyeuristische oder erste Identifikationsmodus nach Art der Kronen Zeitung: Wie ein Groschenroman oder eine „Derrick"-Fol-ge wird es einem ölig in die gierig aufgerissenen Augen geschmiert: Unmittelbar nach seiner Geburt wurde Klein-Jack unter eine rote Laterne gelegt. In frühester Kindheit riß er Fröschen bei lebendigem Leib die Sprungbeine aus. Mit neun Jahren hatte er seinen ersten Revolver und mit neuneinhalb seinen ersten Geschlechtsverkehr. Seither sind ihm die Frauen hörig und wissen nicht, warum, - bis Gerti Senger mit einem geistigen Doppelaxel das Geheimnis lüftet: „Er belohnt und quält eine Frau nicht gleichmäßig, sondern unregelmäßig." - Da sind wir baff, freilich nur kurz, denn schon folgen wir ihm nach Amerika. Eben sind wir seinem teuflischen Plan, anstelle seines Vaters alle verfügbaren US-Soldaten hinzurichten, auf die Spur geraten, da kommen uns die Profis zuvor: nach einer Verfolgungsjagd durch Miami wird Jack Unterweger von Crockett und Tubbs persönlich festgenommen.

4. Der nationalistisch-olympische Identifikationsmodus oder: „gold me-dal: Jack Unterweger, Austria": Auf den vierten Platz in der Medaillenstatistik von Albertville können wir stolz sein, keine Frage. Hätte man jedoch die Anzahl der Medaillen in Relation gesetzt zur Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes, so wären wir hinter Norwegen sogar Zweite geworden. Die Welt soll freilich nicht glauben, daß wir nur ein Volk von Kron-bergers, Vettoris und Ortliebs sind, nein: wir haben auch unseren Massenmörder! Betrachten wir die Seite 20 der „Presse" vom 19. Februar 1992, so lachen uns drei Serienkiller an: Jeffrey Dahmer, der Schlächter von Milwaukee (15 Opfer), ein fünfundzwanzigjähriger Brasilianer (vermutlich 80 Opfer) und unser Jack, der mit seinen möglicherweise neun Opfern, dividiert durch unsere lächerlichen sieben Millionen Einwohner, einen Massenmörderquotienten von 0,000001285 erreicht und die Konkurrenz mit Abstand hinter sich läßt.

5. Der philiströse oder zweite Identifikationsmodus nach Art der Kronen Zeitung. Identifikation gelingt einem Menschen am leichtesten anhand eines Merkmales, das er an sich und einem anderen gleichermaßen entdeckt. Identifikationsdefizitär wie wir sind, lassen wir uns vom Propagandakolumnisten der Nation mittels des plattesten, fürs Unbewußte eines Identitätsschwächlings jedoch unwiderstehlichsten Merkmalsangebotes locken: zur Mehrheit zu gehören. - Jedem seine Krone. Jedem seine gleiche Meinung. Die Macht liegt bei der Mehrheit. -Vorsicht: der Clou folgt erst! Wie kriegt man die Macht der Mehrheit und den vordergründigen Anspruch, Anwalt des Kleinbürgers, also des Ohnmächtigen, zu sein, unter einen Hut? Wie gelingt es, die Macht zu haben und sich dabei (ethisch) gut zu fühlen? - Indem man anwendet, was ich in schöner Geschraubtheit den Majoritätsminorisierungstrick nennen möchte: Man tut so, als hätte man sie nicht, die Mehrheit, ganz im Gegenteil; man schiebt die Macht der Mehrheit den bösen anderen zu (Hans Haider den aussterbenden Linken) und kultiviert das Gefühl, diese wollten einem ständig ans Leben. Die Intellektuellen überschwemmen uns! Die Künstler trampeln uns nieder! Die Kommunisten nehmen uns die Pensionen weg! Gemeinsam züchten sie Massenmörder, um uns, die Minderheit (Schopenhauer: Hundert Narren, auf einem Haufen, geben noch keinen gescheiten Mann) auszurotten! - Gott sei Dank gibt es die Beschützer der Bedrohten: Staberl, Cato, Michael Jean-nee und Miami Vice. Bei ihnen ist Jack Unterweger gut aufgehoben.

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