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Einmal anders...

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Entwicklungshilfe für die dritte Welt — darunter stellt sich der Durchschnittseuropäer Hilfe für unterentwickelte Weiße, Gelbe, Schwarze, Rote und Gemischtfarbige vor, die sich heute immer noch nicht im Besitze der Segnungen unserer Zivilisation befinden, als da sind der Eisschrank, Elektrogeräte, Waschmaschine, Fernseher oder auch der Leistungssport und die verschiedenen Auffassungen von Demokratie.

Mit einem Wort, man kann sich als Europäer ein menschenwürdiges Dasein nur in seiner eigenen Lebensform vorstellen. Die Zeit, darüber nachzudenken oder gar nachzulesen, welche Werte auch heute noch in den meisten außereuropäischen Kulturen vorhanden sind — bei uns bereits verkümmert oder ganz verschwunden —, nimmt man sich nicht mehr. Wir Europäer glauben, immer nur die Gebenden zu sein, und verlangen sogar, daß die dritte Welt als die nur „Nehmende“ abgestempelt wird. Was könnten uns denn auch diese „armen Unterentwickelten“ schon geben?

Diese Überlegenheitshaltung verschließt uns freilich oft von vornherein den Weg zu ihrem Fühlen,Denken und zu ihrem Herzen, und diese Mauer zu durchbrechen, ist bisher nicht vielen Europäern gelungen, am wenigsten irgendwelchen Institutionen. (Selbst den Kirchen nur teilweise und das auch nur dann, wenn sie sich den jeweiligen Kulturen anzupassen oder besser gesagt: einzufühlen vermochten.)

Innerhalb der dritten Welt nimmt der ibero-amerikanische Subkontinent eine Sonderstellung ein. Es ist der einzige Kontinent, in dem sich drei Menschenrassen nicht nur begegnet sind, sondern auch miteinander vermischt haben. Mit demselben Recht wie „Ibero-“ oder „Lateinamerika“ könnte man auch „Indio-Amerika“ sagen. Letzteres sogar mit mehr Berechtigung, da sich heute die Völker dieses Subkontinents wieder an ihre physische und geistige Vergangenheit erinnern. Eine reinweiße Majorität gibt es nur in wenigen ihrer Länder und im Gegensatz zu früher berufen sich immer mehr Lateinamerikaner auf indianische Vorfahren. Es ist auch nicht mehr unbedingt ein Privileg oder ein gesellschaftliches Muß, nur weiße Vorfahren zu haben. Zu diesen Nichtprivilegierten gehörten die Marginados, Bauern und reinen Indios, die bisher am wenigsten oder fast gar keinen Kontakt mit Europa hatten.

Es sei hier bewußt nur von Europa gesprochen, da die Vereinigten Staaten zu ihren südlichen Nachbarn in einem Sonderverhältnis stehen. In das mit bewundernder Ver-Achtung ausgesprochene Wort „Gringo“ legen die Völker südlich des Rio Grande alles hinein, Idas sie von ihrem nördlichen Nachbarn halten. Diese unter den ungleichen Stiefbrüdern bestehende tiefe Kluft, überschattet noch von alteingewurzeltem Mißtrauen, könnte gerade von Europa aus langsam und behutsam überbrückt werden.

Bisher hat Europa diese Chance nicht erkannt. Zumindest haben sich bis heute jene, die sie erkannt haben, nicht durchsetzen können. Selbst einem Charles de Gaulle gelang es nicht, auch nur den Beginn eines anderen Verhaltens durchzusetzen. Dabei handelt es sich nicht primär um die Milliardenprojekte gigantischer Industrie-Investitionen oder um groß angelegte Schulungsund Ausbildungsprogramme, denn dergleichen wird ohnedies mit wechselndem Erfolg versucht, ohne daß dadurch bisher der Zugang zum Herzen und zur Seele der Marginados, Bauern und Indios gefunden worden wäre, die ja letztlich das eigentliche Latein-, Ibero- oder Indio-Amerika ausmachen. Ohne den direkten menschlichen Kontakt, die echte zwischenmenschliche Kommunikation, ohne Gespräch mit diesen Menschen ist jede sogenannte Entwicklungshilfe fehl am Ort, weil sie den Menschen nicht wirklich hilft. Es geht darum, das Gespräch mit den Menschen zu suchen, nicht mit den Repräsentanten europäisch aufgeputzter Nationalstaaten.

Es wäre hier sicher sehr verdienstvoll, wollte Europa einmal im Rahmen einer Fernsehserie Antworten Ibero-Amerikas auf Themen herausfordern, die uns Europäer beschäftigen und die drüben in irgendeiner Form gelöst sind oder im Begriffe stehen, gelöst zu werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Schulreform. Hier gibt es neue Schulmodelle in Lateinamerika. Strafrechtsreform, Strafvollzug: Costa Rica besitzt ein vorbildlich modernes Frauengefängnis mit zwei zivilen Wächtern und 16 Schwestern vom „Guten Hirten“ aus einem angeschlossenen Kloster. Die Frauen sind in Gruppen untergebracht, kochen selbst, arbeiten, verdienen Geld, haben ihre Kinder im Kindergarten des Klosters untergebracht und sehen sie täglich. Die Strafanstalt ist von einem Park umgeben.

Priestermangel: In der Dominikanischen Republik arbeiten 700 Katecheten in einer Riesenlandpfarrei mit nur 3 kanadischen Priestern.

Bodenrechtsreform: Der Indio lebt bis heute ohne Privatbesitz an Grund und 'Boden, Genossenschaften bilden sich neu nach gleichen Grundsätzen.

Künstlerische Maßstäbe: Der Indio verkauft auf seinem Töpfermarkt in Tzintzutzan (Mexiko) die guten Stücke nur an Indios.

Mangel an Lehrkräften: Lateinamerika kennt Radioschulen nach dem System ECCA.

Olympische Idee und Profisport: Die Tarahumara-Indianer setzen sich gegen Sportlehrer zur Wehr, die sie auf „siegen“ trimmen wollen. Sie „spielen“!

Wenn man konsequent suchen würde, fände man noch viele Beispiele, besonders im pädagogischen Bereich, in der Kinder er Ziehung, im menschlichen Verhalten untereinander, in der Beziehung zwischen arm und reich.

Entwicklungshilfe, so gesehen, in echter Kommunikation, im wechselseitigen Fragen und Antworten — würde da, zumindest im menschlichen Bereich, nicht Europa der mehr „Empfangende“ sein?

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