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Einseitig und lückenhaft
Der dritte Band der Literaturgeschichte von Viktor Zme-gac ist durch eine eigenartige Verzerrung der Proportionen gekennzeichnet. Das zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf den Index: Brecht ist sechsmal so oft erwähnt ■wie Kafka, und sogar der öde Parteidichter Johannes R. Becher kommt häufiger vor als Robert
Musil und Hermann Broch zusammen. Arnold Zweig ist zweimal so oft genannt wie Stefan Zweig.
Hier sollen indessen nur jene Abschnitte betrachtet werden, welche die österreichische Literatur betreffen, der in höchst positiver Weise für den Zeitraum nach 1945 Sonderkapitel eingeräumt wurden. Leider finden sich in diesen Kapiteln unverhältnismäßig viele Irrtümer und Unwahrheiten. So etwa kann der erstaunte Leser erfahren, daß die Mitglieder des Grazer Forums Stadtpark „ein autonomes österreichisches PEN-Zentrum“ - versteht sich, unabhängig von dem in Wien -gegründet haben. Dem Versuch hiezu blieb bekanntlich der Erfolg versagt.
Oder aber man kann lesen, daß Rudolf Felmayer und Ernst Schönwiese „in ihren formbewußten Gedichten eine realitätsfremde fernöstliche Mystik“ kultivieren. Was hier „Formbewußtsein“ genannt wird, gilt für Schönwieses Lyrik nur bis zum Band „Baum und Träne“ (1962). Dafür gibt es in der späten Lyrik Schönwieses tatsächlich einen tiefreichenden Einfluß fernöstlicher Mystik. Ob und inwieweit diese „realitätsfremd“ ist, würde allerdings in Bereiche führen, die weit jenseits des Horizonts dieser Literaturgeschichte liegen. Dafür sind Feimayers Gedichte, deren Stil mit denjenigen Schönwieses so gut wie nichts gemeinsam hat, völüg frei von jeglicher (und natürlich auch fernöstlicher) Mystik und strahlen einen so klaren naiv-realistischen Reiz aus, daß sogar unser Literaturgeschichtsschreiber ihn als realitätsnahe verstehen und genießen könnte. Aber er schöpft seinen Mystik-Verdacht bei Felmayer offenkundig einzig und allein aus dem Titel eines von dessen Gedichtbänden: „Der Spielzeughändler aus dem Osten.“ Die Lektüre auch nur eines oder zweier Gedichte aus dem Band hätte genügt, um den My-stik-„Verdacht“ zu entkräften.
Das Lesen und die Kenntnis der behandelten literarischen Texte ist indessen nicht die Stärke dieser Literaturgeschichte. Ein Herr Kurt Bartsch macht beispielsweise den Titelhelden von Erich Frieds Roman „Ein Soldat und ein Mädchen“ zu einem Besatzungsoffizier. Auch nur flüchtige Lektüre hätte ihm gezeigt, daß dies nicht richtig sein kann. Offiziere werden nämlich nicht als Gefängniswachen benutzt, und nach der Nacht mit dem Mädchen wird der Soldat ausdrücklich dem ihm vorgesetzten Offizier vorgeführt.
Obgleich manche Autoren erstaunlich viel Platz eingeräumt erhalten, fehlen manche und sehr wichtige ganz. Sie werden überhaupt nicht erwähnt. Auf den ersten Blick allein vermisse ich etwa unter den österreichischen Exil-Lyrikern (von Drama und Epik erst gar nicht zu reden): Rose Ausländer, Richard Beer-Hof-mann, Friedrich Bergammer, Alfred Gong, Joseph Kalmer, Hedwig Katscher, Alfred Marnau, Max Roden, Issac Schreyer, Alice Schwarz, Guido Zernatto und Frank Zwillinger — und dies trotz eines eigenen Kapitels über Exilliteratur.
Unter den lebenden österreichischen Autoren glänzen durch Abwesenheit so bedeutende Schriftsteller wie H. G. Adler, Humbert Fink, Elisabeth Freundlich, Hermann Friedl, Gertrud Fusseneg-ger, Alexander Giese, Hans Heinz Hahnl, Edwin Hartl, Lotte In-grisch, Johannes Lindner, Erika Mitterer, Doris Mühringer, Györ-gy Sebestyen, Erich Wolfgang Skwara, Ilse Tieisch, Alois Vogel, Juliane Windhager und Peter Daniel Wolfkind, und diese Liste ließe sich wie die obige spielend verlängern. Wenn man von einer guten Literaturgeschichte umfassende und verläßliche Auskunft über Autoren und Werke erwartet: hier kann man sie nur in beschränktem Ausmaß finden.
GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR VOM 18. JAHRHUNDERT BIS ZUR GEGENWART. Band III.: 1918-1980. Herausgegeben von Viktor Zmegac. Athenäum, Königstein/Ts. 1986. 876 Seiten, öS 608,40.
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