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Einsicht und Zusammenarbeit oder Ende des Experiments

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Die Regierungen im Westen reagieren auf die portugiesische Entwicklung mit mißmutigem Grunzen, das sich, vom feinen Diplomatendeutsch in die Alltagssprache übertragen, wie „unfähige Tschuschen“ oder „Neger“ anhört. Da sind nach 48 Jahren einer autoritären Ordnung demokratische Verhältnisse geschaffen worden und dann funktioniert das schon wieder nicht. Als ob es demokratischen Systemen innewohnte, ganz besonders wirkungsvoll und reibungsfrei zu funktionieren! In diesem Zerrspiegel betrachtet, wird Portugal den demokratischen Dogmatikern noch viele Jahre lang wenig Freude machen. Man wird schon froh sein müssen, wenn in den teils ererbten, teils von den „Revolutionären“ selbst geschaffenen chaotischen Verhältnissen demokratische Elemente gemeinsam mit autoritären Strukturen eine zwangsläufig einmal fällige Konsolidierung überleben. Denn die ökonomischen und politischen Voraussetzungen Portugals lassen eher eine Entwicklungsdiktatur erwarten, als eine Demokratie westlicher Prägung.

Rund ein Drittel der Portugiesen lebt noch heute von der Landwirtschaft - in den westlichen Demokratien sind es durchwegs weniger als zehn Prozent - und die Industrie des Landes besteht den Wettbewerb nur auf der Basis niedrigerer Löhne, weü sie kapitalarm ist und ihre Rohprodukte seit dem Verlust der Uberseegebiete auf den internationalen Märkten kaufen muß. Vierzig Prozent der Portugiesen gelten als Analphabeten, was die Heranbüdung von Facharbeitern in kurzer Frist nicht möglich macht. Das Land hat keine nennenswerten eigenen Energievorkommen, völlig unterentwickelte Verkehrsstrukturen, eine größtenteils veraltete Fischereiflotte und eine für moderne

Verhältnisse unzureichende Verwaltung, die beispielsweise außerstande ist, zur Steuerung einer leistungsfähigen Volkswirtschaft unerläßliche statistische Unterlagen bereitzustellen. Das sind charakteristische Merkmale eines Entwicklungslandes, die in Verbindung mit den modernen Informationseinrichtungen, wie Rundfunk und Fernsehen, einen Verteilungskampf zur Folge haben, der mit demokratischen Methoden bisher nicht zu kanalisieren war. Die Menschen wissen vom Wohlstand in Westeuropa, wissen, welche sozialen Sicherheiten dort der Staat den Bürgern bietet, daß sich der Friseur ein Haus baut und daß Landarbeiter im Winter einen Skiurlaub genießen. Ein Wundertäter, der diesen Standard auch den Portugiesen brächte, könnte sich an der Spitze einer demokratischen Regierung halten.

Ministerpräsident Mario Soares war kein Wundertäter. Er amtierte mit seinem Minderheitenkabinett eineinhalb Jahre lang, weü sich die maßgebenden Politiker und Militärs darüber im klaren sind, daß auch ein anderer Politiker die Ansprüche der Menschen, der Massen nicht erfüllen kann. Um so weniger, als die vom früheren Regime angehäuften Währungsreserven von mehr als sechs Milliarden Dollar von den Übergangsregierungen seit der Revolution im April 1974 und vom Kabinett Soares verpulvert worden sind. Allerdings war das nicht Bosheit oder Taktik, sondern Schwäche. Zu viele Portugiesen glauben, sie könnten mit der Verstaatlichung der Industrie, der Banken, der Versicherungen und der Landwirtschaft den Massenwohlstand sichern. Oder, anders ausgedrückt: Sie schwören darauf, daß man Besitz enteignen und gleichmäßig verteilen müße, um jedem Bürger ein angenehmes und erwünschtes Einkommen zu garantieren. Das ist gegen den wirkungslosen Widerstand einer mit einigen Ungerechtigkeiten der Salazar- Zeit belasteten „Rechten“ auch weitgehend geschehen. Jetzt zeigen sich die Folgen: Die privaten Investitionen sind auf ein Minimum geschrumpft, heute nationalisierte Unternehmen, die früher ansehnliche Gewinne abgeworfen haben, wurden zu Kostgängern des Staates, weil die einen wie die anderen die Löhne nicht verdienen können - von Investitionen ganz zu schweigen. Die Arbeitslosigkeit kletterte trotz eines immer noch rigorosen Kündigungsschutzes auf offiziell eingestandene 15 Prozent und die Inflation auf 30 Prozent. Um sich die Gunst der Massen zu erhalten, reden die Kommunisten von der „Überwindung des kapitalistischen Systems“, die Sozialisten sprechen von Ubergangsproblemen, die Sozialdemokraten von der Unfähigkeit des Kabinetts Soares und das christdemokratische Zentrum von Wirtschafts- und Gesellschaftsutopien, die Portugal ins Unglück führen. Als ob es dort nicht schon wäre. Und zwar mitten drin. Denn um die Ergebnisse der sozialistischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu verschleiern, muß die Regierung nun seit Jahren die umfangreichen Lebensmittelimporte aus den Währungsreserven bezahlen.

Aber das wollten sich die Regierenden nicht eingestehen. Nun stehen sie vor dem Offenbarungseid. Der Internationale Währungsfonds will keine 750 Millionen Dollar zur Verfügung stellen, um damit die Defizite nationalisierter Unternehmen, die miserabel organisierte Verwaltung und den Import von Zucker, Fleisch, Getreide und Konsumgütem zu finanzieren. Er verlangt Konzepte. Er möchte wissen, wie Portugal die eigenen Kräfte mobilisieren, die Wirtschaft ankurbeln, die Arbeitslosigkeit einschränken und die

Inflationsrate dämpfen will. Das möchten auch die EG und andere Länder wissen, deren Regierungen Wirtschaftshilfe vor den eigenen Steuerzahlern zu verantworten haben.

Aber das Kabinett Soares fühlt sich nicht stark genug, um den bisher aus den Reserven finanzierten Lebensstandard der Bevölkerung auf jenes Maß zurückzuschrauben, das der Leistungskraft der deroutierten Wirtschaft angemessen ist. Und das mit Recht. Denn heute fragt bereits ein zunehmender Prozentsatz der Bevölkerung nach den Vorteilen des demokratischen Systems gegenüber der Ära Salazar, die zumindest in den letzten Jahren Brot und Arbeit sichern konnte. Die demokratischen Parteien sind dazu nicht imstande, sondern vergeuden ihre Reputation im Streit um Wählerstimmen und Ideologien. Sie gieren nach Posten, kontrollieren die öffentliche Meinung mit Hilfe verstaatlichter Zeitungen und des Fernsehmonopols und verspielen in eifersüchtiger Rivalität gemeinsam das Vertrauen der Bevölkerung. Als Begründung führen sie an, es hieße ja, die eigene Partei aufgeben und die Wähler dem Gegner in die Arme treiben, wenn die einen die ungeschminkte Wahrheit sagen, während die Konkurrenz so tun kann, als ob sie einen anderen Ausweg aus den Schwierigkeiten wüßte. Aber jetzt dürfte es die wirtschaftliche Lage den Parteien nicht mehr erlauben, sich an den Folgen der bisherigen Politik vorbeizuschwindeln. Das kann zur Einsicht und Zusammenarbeit, oder aber zur Verhärtung führen. Der zweite Fall brächte das Ende des demokratischen Experimentes.

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