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Eiserner Vorhang bleibt dicht

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Der „antifaschistische Schutzwall” wird ohne Tötungsautomaten nicht durchlässiger. Und das DDR-Strafgesetz kennt pikante Paragraphen, um ausreisewillige Bürger in ihren Grenzen zu halten.

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Der „antifaschistische Schutzwall” wird ohne Tötungsautomaten nicht durchlässiger. Und das DDR-Strafgesetz kennt pikante Paragraphen, um ausreisewillige Bürger in ihren Grenzen zu halten.

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rieht der österreichischen Presseagentur APA.

Staatsratsvorsitzender und SED-Chef Erich Honecker hatte die Bombe vor österreichischen Journalisten platzen lassen, die sich im Vorfeld des Staatsbesuchs von Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, der am Freitag, den 14. Oktober zu Ende ging, in Ostberlin aufhielten: die Tötungsautomaten sollen an der „gesamten Länge der deutschdeutschen Grenze” beseitigt werden. Weiters werde der Zwangsumtausch von 25 Westmark für Kinder bei der Einreise in die DDR abgeschafft.

Beide Maßnahmen werden in Bonn mit Zurückhaltung, als Kompensationsgeschäft für den von Ministerpräsident Franz Josef Strauß vermittelten Milliardenkredit an die DDR gedeutet, gewissermaßen „Menschlichkeit gegen Barzahlung”. Doch die Zurückhaltung in Bonn — man will nicht so recht an Liberalisierungstendenzen in der DDR glauben — ist gewiß nicht unberechtigt: Denn der Schein trügt, daß der „antifaschistische Schutzwall” (DDR-Jargon) durchlässiger werden wird.

Einerseits tritt nur für eine verschwindend kleine Minderheit, für Kinder, eine Erleichterung bei der Reise von „hüben nach drüben” ein. Für die große Anzahl der Pensionisten und Rentner, die Verwandtenbesuche im „anderen” Deutschland wegen des 25 D- Mark-Mindestumtausches rigoros einschränken mußten, wird es auch in Zukunft voraussichtlich keine Erleichterungen bei der Einreise geben.

Andererseits wird der „Eiserne Vorhang” zwischen den beiden deutschen Staaten undurchdringlich bleiben, auch wenn sich Honecker an Spekulationen bundesdeutscher Medien nicht beteiligen möchte, daß die bestehenden Selbstschußanlagen nur demontiert werden, um durch modernere ersetzt zu werden.

Diese „Tötungsautomaten” — amtlich lakonisch SM 70 genannt — werden mit Stolperdrähten verbunden, deren Berührung die Sprengladung der Apparatur zündet: 118 Stahlwürfel mit einer Kantenlänge von vier Milimetern werden bis zu 25 Meter weit verschossen und gleichzeitig die Alarmanlagen bei den Grenzern ausgelöst.

Das Kontrollgebiet beschränkt sich aber nicht nur auf die eigentliche Grenze. Es reicht auf DDR- Seite bis in eine Tiefe von fünf Kilometern in einen Grenzraum, in dem ein „normaler” DDR-Bürger nichts zu suchen hat. Und knapp 500 Meter von der Grenze entfernt befindet sich der sogenannte Schutzstreifenzaun, an dem - so mutmaßte eine britische Grenzpatrouille im deutsch-deutschen Magazin des ZDF, „Kennzeichen D” — moderne Tötungsapparate montiert werden könnten: Mit dem Vorteil, daß diese vom Westen aus nicht mehr einzusehen wären.

Außerdem scheint die DDR das Loch im „Eisernen Vorhang”, das die Demontage der Selbstschußanlagen gerissen hat, schon zu flicken. So meldet das Bundesgrenzschutzkommando Süd in München die Verlegung neuer Minen an der DDR-Grenze durch Pioniere der Voksarmee.

Die DDR hat aber noch weit sensiblere Methoden entwickelt, um ausreisewillige Bürgel-, die noch vor dem Rentenalter stehen, in ihren Grenzen zu halten. So registriert das Gesamtdeutsche Institut in Berlin seit Jahresbeginn 684 politische Verurteilungen ge gen DDR-Bürger, die das Land verlassen oder von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen wollten.

Laut Horst Hildebrand vom Referat Rechtswesen des Berliner Instituts ist das Zahlenmaterial dabei allerdings unvollständig, da sich die DDR über Strafbestände im politischen Bereich beharrlich ausschweigt.

Mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit in der DDR beschäftigt sich auch eine Publikation der Gefangenenhilfeorganisation amnesty international, die jüngst veröffentlicht wurde.

So garantiert zwar der Artikel 27 der Verfassung der DDR das Recht jedes Bürgers, „seine Meinung frei und öffentlich zu äußern”. Ein 1969 amtlich erschienener Kommentar zur Verfassung bestimmt aber weiter, daß die in der Verfassung niedergelegte Freiheit der Meinungsäußerung nicht die Freiheit einschließt, antisozialistische Meinungen zu äußern und zu verbreitern.

Um solche „antisozialistische Hetze” — in welcher Form auch immer — gleich im Keim ersticken zu können, hat der SED-Staat ein Instrumentarium von sechs strafgesetzlichen Paragraphen entwickelt, die durch viele „Kann”- Bestimmungen jeden Verdacht schon strafrechtlich ahnden können. Konkret sieht das dann so aus:*

• Joachim Ossmann, ein Installateur aus Dresden, diskutierte mit einem auf Besuch weilenden Freund aus dem Ausland seinen Wunsch, das Land zu verlassen. Später erschienen in ausländi schen Zeitungen zwei Artikel über seinen Fall. Er wird wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung” inhaftiert.

• Dieter Brauer, ein Gärtner aus Saalfeld, der sich drei Jahre lang um eine Ausreisegenehmigung bemüht hatte, schrieb an den Staatschef und schiokte eine Kopie an die „Vereinigung für Menschenrechte”. Er wird wegen „landesverräterischer Agententätigkeit” inhaftiert.

• Frank Nötzhold, Ingenieur, nahm einige Lieder des dissiden- ten marxistischen Liedermachers Wolf Biermann auf ein Tonband auf und gab das Band an Freunde weiter. Er wird wegen „staatsfeindlicher Hetze” zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

• Steffen Thomas aus Dresden korrespondierte mit einem Mitglied der „Gesellschaft für Menschenrechte” seinen Ausreisewunsch. Er wird wegen „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme” verhaftet.

• Ein Mann aus Berlin beantragte bei den Behörden die Annulie- rung seiner Staatsbürgerschaft. Als sie dies ablehnten, schickte er wöchentlich eine Postkarte mit seinem Gesuch an den Innenminister und an Parlamentarier. Man inhaftiert ihn wegen „öffentlicher Herabwürdigung”.

• Nachdemsiezehnmalerfolglos einen Ausreiseantrag gestellt hatten, ging in Berlin das Ehepaar Hans-Jürgen und Angelika Ger- des mit einem Transparent auf die Straße, auf dem zu lesen war: „Laßt uns gehen. Wir kommen nie wieder!” Diese gewaltlose Demonstration führt zur Inhaftierung wegen „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit”.

Dementsprechend verläuft auch die Praxis der Rechtsprechung. Ein Gespräch mit einem Rechtsanwalt, den sich die Angeklagten aus einer Liste des Staatssicherheitsdienstes aussuchen können, findet gewöhnlich erst kurz vor der Gerichtsverhandlung statt. So fanden auch alle amnesty international bekannten Fälle unter Ausschluß der Öffentlichkeit, ja sogar der nächsten Verwandten statt.

Der Gefangenenhilfeorganisation ist kein Fall unter Anklage eines dieser Paragraphen bekannt, der mit Freispruch endete.

Die meisten politischen Gefangenen werden vor Ablauf ihrer Strafe freigelassen und dürfen in die BRD ausreisen, und zwar gegen harte Westdevisen, durch die Häftlinge von der BRD „freigekauft” werden…

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