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Elend der Großstadt

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Auch das gibt es: Eine Pfarre, in der Türken, Punks, „Alternativler“ die Mehrheit der Pfarrbevölkerung bilden. Wird in Berlin Seelsorge von morgen geübt?

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Auch das gibt es: Eine Pfarre, in der Türken, Punks, „Alternativler“ die Mehrheit der Pfarrbevölkerung bilden. Wird in Berlin Seelsorge von morgen geübt?

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Im Pfarrgebiet wohnen und hausen 38.000 Menschen, davon 17.000 Ausländer (vor allem Türken) und 3.800 getaufte Katholiken (also etwa zehn Prozent des Stadtteiles). Im Laufe der Industrialisierung wanderten arme Leute vom Land in diesen schon immer ärmeren Stadtteil Berlins, darunter waren viele Katholiken aus Schlesien.

Die Acht-Stunden-Schlafburschen wechselten dreimal am 24stündigen Tag dieselben Wohnquartiere. In der Zwischenkriegszeit wählten die Kirchgänger „allesamt“ die Zentrumspartei, die Nichtkirchgänger gehörten zur SPD oder den Kommunisten.

Heute ist dies völlig anders: Seit dem Bau der Berliner Mauer 1961

wanderten Kreuzberger in Berliner Außenbezirke. Es kamen Gastarbeiter, Studenten, westdeutsche Arbeiter und viele gescheiterte Menschen.

Heute leben hier 3.800 Personen unter dem Existenzminimum, also jede(r) zehnte. In Westberlin beträgt die Arbeitslosigkeit im Schnitt zehn, hier 30 Prozent, und jeder zweite Jugendliche ist arbeitslos. Die Jugendlichen aus der türkischen Bevölkerung wollen weder die Dreckarbeit ihrer Eltern, noch wollen sie leben wie die Türken in der Heimat.

„Alle Türken wollen zurück“, betont Pfarrer Kliesch und fügt an: „Die unendlichen Probleme mit diesen Jugendlichen kommen erst.“

Vorläufig stabilisieren die Türken die Verhältnisse; denn sie können mit ihrer relativen Armut umgehen, halten zusammen, haben eine intakte Familienstruktur und sind vitaler und unverbrauchter als die deutschen Mitbewohner. Aus der Türkei gibt es so gut wie keinen neuen Zuzug.

Ganz anders ist die Situation deutscher Jugendlicher in Kreuzberg: Sehr viele sind alkohol- und drogenabhängig — sowohl unter den bunthaarigen Punks (Aussteigern, die nie eine Chance hatten) als auch unter den militärisch „angetrachtelten“, von Kleinbürgern stammenden Skinheads.

Dieser Stadtteil von Kreuzberg hat eine enorme Bevölkerungsfluktuation: Ein Drittel zieht innerhalb eines Jahres weg (Motto: „Unsere Kinder sollen nicht in diesem Dreck mit den wenigen Grünanlagen aufwachsen und in Schulen benachteiligt werden — mit 70 bis 90 Prozent Türkenkindern!); ein neues Drittel belegt wieder die „letzte Etage des sozialen Abstieges“.

Die Kontrastseite dazu: Es gedeihen eine Fülle an Kinderläden, Nachbarschaftsvereinen, Selbst-hüfegruppen und „Bürgervereinen“, also Bürgerinitiativen, in denen höchstens einige wenige türkische Sozialarbeiter aktiv dabei sind. Und es gibt sehr viele gemischte Kommunen, und viele Künstler (Maler) leben in Kreuzberg.

Das wirtschaftliche Gewicht Hunderter alternativer Lebensformen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Ein ganz bestimmtes Lebensgefühl in Kreuzberg hebt sich ab von dem des restlichen West-Berlins. Zwar bestehen kaum Querverbindungen zwischen verschiedenen Bevölkerungskategorien, zwischen Alternativen und Aussteigern, Deutschen und Gastarbeitern und so weiter, aber ein besonderer Grad an Toleranz ermöglicht das Ne-ben-Einander-Leben.

„Die Bereitschaft, andere in ihrem Anderssein zu ertragen, ist größer als anderswo“, meinte Kliesch, „und dies ist eine besondere Lebensqualität.“

Zwei konkrete Beispiele hierfür aus dem pfarrlichen Bereich: Zur Eucharistiefeier kommt ein Transvestit und setzt sich auf den

Priester sitz; ein Punk trinkt während der Sonntagsmesse sein Bier und stört nicht durch sein An-ders-Handeln... Auch aus der Kirche Ausgetretene nehmen aktiv am Gottesdienst teil. 120 bis 200 Leute besuchen den Sonntagsgottesdienst. Aber viele aktive Gemeindemitglieder ziehen in andere Stadtteile.

Die besondere Lebensqualität in Berlin-Kreuzberg bringt auch „Opfer“ mit sich: Zwei Drittel der Beerdigungen in den ersten drei Amtsjahren des Pfarrers haben mit Mord, Selbstmord und Drogenabhängigkeit zu tun. Obwohl es in drei Jahren ein Dutzend Morde gab, soll nach Wunsch des Herrn Pfarrers kein Horrorbild gemalt werden.

Es gibt keine Elendsquartiere, Not- und Lichtseiten sind gleichermaßen Dauergäste. Die Ortskirche ist keine hierarchische Angebotsgemeinde. Jeder ist bedingungslos zugelassen.

Besonderen Eindruck machte auf mich die sogenannte „Suppenküche“. Hier gibt's ein warmes Essen pro Tag für verarmte, vereinsamte und im Leben gestrauchelte Deutsche: Wochentags kommen 80 von ihnen. An Samstagen und Sonntagen sind es 200 bis 300. Und das Folgende steht in Kontrast zu Sozialreportagen: .Aber kein einziger Türke kommt; sie verstehen es, einfach und genügsam zu leben“, betont Pfarrer Kliesch.

Geschäftsleute äußerten Unmut über die Errichtung der „Suppenküche“, und auch bei Gläubigen gab es starke Vorbehalte: „Sollen die Alkoholiker ein Gratisessen bekommen?“. „Die Auseinandersetzungen darüber in der Gemeinde“, sagt Kliesch — jedes Wort abwägend -, „führten zu hinreißenden Bekehrungen.“ So schneidet eine gläubige Frau Obdachlosen und Sandlern die Zehennägel. „Das sind Wunder!“

Von Behörden kam der Vorwurf, hier würde antiquierte Sozialarbeit des 19. Jahrhunderts geleistet. Dem Einwand begegnet Kliesch mit einer Reihe von Argumenten: „Ein gutes Essen pro Tag ist eine wichtige Gesundheitsprophylaxe. Etwa 20 Hilfesuchende bekommen nicht nur zu essen, sondern helfen in der Küche selber mit. Und jene, die kommen, werden nicht wie Sozialfälle behandelt, welche sich ausweisen müssen, um etwas zu erhalten.“

Ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt ist aber: „Der fixe Essenstermin strukturiert den Tag haltlos gewordener Menschen.“

Für die Gemeinde ist die „Suppenküche“ ein Symbol dafür, wie Kirche mit Leuten umgeht, die nur etwas kosten und „nichts bringen“. Bei der Speisenzubereitung helfen auch vier Ordensschwestern der Mutter Teresa mit, welche öffentliche Publizität für sie selber als nicht wünschenswert erachten.

Die Pfarrgemeinde versteht sich als bewußt politisch engagiert. Der Pfarrgemeinderat kritisierte öffentlich die Aufhebung der Mietpreisbindung, wodurch Mieten steigen und finanziell

Schwache auf die Straße gesetzt werden.

Seit Jahren wird versucht, eine Wärmestube einzurichten, in der sich Menschen der Straße, Obdachlose, Ausgegrenzte, Einsame, Arme aufwärmen, Kaffee trinken, eine Mahlzeit kochen, Wäsche waschen, duschen und kompetente Gesprächspartner finden können. Im vergangenen Jahr kam es in Kreuzberg zu Krawallen, bei denen die katholische Gemeinde vermittelte. Erst die Unruhen brachten die Westberliner Senatsverwaltung dazu, 1,5 Millionen Schilling für die geplante „Wärmestube“ bereitzustellen.

Die Christen von Kreuzberg hinterfragen aber auch die Kirchen: „Haben die Großkirchen ihre Freiheit zum Außergewöhnlichen längst verspielt, weil auch sie zu sehr in ein zu enges Netz von Absprachen, Verpflichtungen und Stellenplänen eingespannt sind, anstatt sich prophetisch als Kontrastgesellschaft nach den Maßstäben des Evangeliums zu verwirklichen?

In der Bibel jedenfalls sind die Armen, die Benachteiligten, die Kranken und die Heillosen die bevorzugten Lieblinge Gottes. Also müssen sie es auch für die Kirche sein. Die Option für die Armen hat den Kirchen wesentlich zu sein. Die Identifikation mit ihnen ist so total, daß Jesus mit letzter Dringlichkeit sagt: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Von alldem ahnt der kaum etwas, der von anderen Westberliner Stadtteüen kommend in Kreuzberg ein Schlemmer- oder Bauchtänzerlokal aufsucht oder eine gemütliche Kneipe in einem Altbau...

Der Autor ist Kommunikationsforscher.

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