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Elf Parteien suchen ihre Wähler

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Es ist in den westlichen Demokratien zur Gewohnheit geworden, Wahlerfolge in Zehntelprozenten zu messen und die magische Marke von 50,1 Prozent zu jenem Ziel zu machen, das die Anstrengungen des Wahlkampfes lohnt. In Dänemark gelten andere Gesetze. Von absoluten Mehrheiten wird hier überhaupt nicht gesprochen; sie anzustreben, wäre Illusion. Und die politische Landschaft ist seit den „Erdrutschwahlen” vom 4. Dezember 1973 derart in Unordnung geraten, daß Halbierung und Verdoppelung von Mandatszahlen zwar nicht auf der Tagesordnung stehen, aber doch keineswegs jene Sensation bedeuten, die ihnen anderswo zukommen würde. Wenn für jene Wahlen, die Staatsminister Anker Jörgensen für den 15. Februar ausgeschrieben hat, keine umwälzenden Veränderungen erwartet werden, dann muß sich der mitteleuropäische Betrachter vor Augen halten, daß der dänische Wähler um vieles mobiler ist; daß starkes Schwanken der Mandatszahlen nichts Außergewöhnliches, sondern selbstverständlich ist und daher auch nicht als Elementarereignis gewertet wird.

Ein Systemwechsel wie ihn Schweden eben erst erlebt hat, ist in Dänemark nicht möglich, da nicht, wie auf der anderen Seite des Öresund, zwei doch einigermaßen festgefügte Blöcke einander gegenüberstehen, sondern elf Parteien versuchen, aus dem Wählerkuchen ein möglichst großes Stück für sich herauszuschneiden. Zehn Parteien sind gegenwärtig im Folketing vertreten; die größte - die Sozialdemokraten - mit nicht ganz 30 Prozent der Stimmen. Koalition hat Dänemark in den letzten Jahren keine erlebt, weder nach den Wahlen von 1973 noch nach jenen von 1975. Doch die Minderheitsregierungen waren zu Absprachen quer durch die politischen Lager gezwungen, um überleben zu können. Anker Jörgensen stützte sich zuletzt auf Konservative, Zentrumsdemokraten, Radikalliberale und die Mandatare der Christlichen Volkspartei. Für eine sozialistische Politik ä la Palme waren ihm so die Hände gebunden. Ein Regierungswechsel in Dänemark wäre kein Systemwechsel.

Die fehlenden Mehrheiten brachten zuletzt zwar das Positivum einer versuchten Konsenspolitik, dieser Vorteil wurde aber durch die negativen Auswirkungen bei weitem übertroffen. Konsens hieß oft - zu oft - nicht Dialog bis zur endgültigen Lösung, sondern Aufschieben brennender Probleme, kurzfristige und kurzsichtige Ubergangslösungen und politische Debatte mit dem Rechenstift: wie viele Mandatare müssen angeworben werden und welche Zugeständnisse kosten sie?

Es ist sicher nicht nur die Schuld des Wahlsystems, daß Regieren ohne Mehrheit zum dänischen Polit-Alltag wurde. Aber das System hat seinen Anteil daran. Dänemarks Wahlrecht ist ein Verhältnis-Wahlrecht, ohne Grundmandatszwang, mit einer 2-Prozent-Sperrklausel. Diese niedrige Sperrklausel ist Grund dafür, daß von elf Parteien, die zuletzt zur Schlacht um die Wählergunst angetreten sind, zehn den Einzug ins Parlament geschafft haben. Nur der „Rechtsverband”, eine nationale Gruppierung, die sich besonders gegen die EG verschworen hat, blieb mit 1,8 Prozent unter der Marke, die er 1973 im Sog der EG-Volksbefragung noch übertroffen hatte.

Hätte Dänemark die 4-Prozent- Klausel des schwedischen Nachbarn, so hätten bei den Wahlen 1975 die Zentrumsdemokraten und die Linkssozialisten den Einzug ins Folketing verfehlt. Die großen Parteien sind sich einig darin, daß die Sperrklausel zu niedrig ist. Aber sie stoßen beim leisesten Versuch einer Änderung auf den erbitterten Widerstand der Kleinen, die jene niedrige Hürde als Ausdruck der Freiheit politischer Meinungsäußerung verteidigen. Und da man die Kleinen in der Tagespolitik braucht, um Mini-Mehrheiten zu sammeln, läßt man das leidige Problem ungelöst.

Es ist keineswegs so, daß die einzelnen Parteien nun wenigstens als festgefügte Blöcke mit einheitlicher Ausrichtung dem Wähler gegenübertreten. Wo der Spaltpilz einmal zu wirken begonnen hat, hört er so schnell nicht wieder auf. Weder links noch rechts. Die Linkssozialisten sind ein Kommu- nisten-Ableger. Die Sozialistische Volkspartei war in den letzten Monaten von Spaltung bedroht und half sich nun, indem sie die Mitglieder des rechten Flügels für die Neuwahlen an unwählbare Stellen auf den Listen placierte.

Der Wähler, der elf Parteien zur Auswahl hat, wechselt häufiger die Richtung als in anderen Ländern. Parteien verlieren und gewinnen binnen weniger Jahre in einem - anderswo - ungewöhnlichen Ausmaß. Doch ist es natürlich nicht nur die Schuld des Wahlsystems, daß die politische Lage derart unstabil ist. Denn vor 1973 kamen mit demselben System sehr wohl Mehrheiten zustande. Das Jahr 1973 markiert den Einschnitt: Plötzlich bekam die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der zunehmenden Bürokratisierung, der unerträglich werdenden Steuerbelastung und anderen Erscheinungen des täglichen Lebens politische Aussagekraft. 1973 war die Geburtsstunde der Glistrup-Bewe- gung, die auf Anhieb zur zweitstärksten Partei des Landes wurde. Jene Wahlen brachten aber auch die Kommunisten zurück ins Parlament. Sie brachten der Christlichen Volkspartei sieben Mandate, die sich als Gegenbewegung zu Pornographie, Abtreibung und Entchristianisierung des täglichen Lebens sieht.

Die Wahlen von 1973 waren Protestwahlen. Spätestens bei den Neuwahlen von 1975 war klar, daß es sich nicht - wie von vielen erwartet - um einen kurzfristigen Aufstand gegen die alte Politik handelte, Glistrup auf der einen Seite, die Kommunisten auf der anderen, können auch am 15. Februar 1977 mit sicheren Gewinnen rechnen. Die vielen, denen diese Bewegung unheimlich ist, die Glistrups Aufstieg mit jenem Hitlers vergleichen, hoffen, daß die Parteien der Mitte die Herausforderung annehmen werden. Dänemarks wirtschaftliche Lage ist äußerst trist. Darüber kann der hohe Lebensstandard nicht hinwegtäuschen. Nur die bedingungslose Kooperationsbereitschaft jener Kräfte, denen die demokratische Entwicklung am Herzen liegt, kann Dänemark aus seiner bedrohlichen Lage heraushelfen.

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