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Elternlose, kinderfeindliche Gesellschaft

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Mit größter Pünktlichkeit lieferte das News Management die passende Story zum vergangenen Muttertag 1972. Neugeborene Kinder, die schreien, weil ihnen der vom Mutterleib gewohnte Herzton der Mutter abgeht, werden in Zukunft ohne Mutterherz beruhigt: Ein- Herzton-Simulator wird mit Hilfe eines Lautsprechers das Ohr des Kindes täuschen. Aber das ist nicht die Pointe der Geschichte. Der „Witz“ an dem Ganzen ist, daß der Mutterherzersatz nicht erprobt werden konnte. Es fehlten nämlich die Babys für die reihenweisen Testversuche. PS: Die Erfindung und das Drum und Dran ereigneten sich in Schweden.

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Mit größter Pünktlichkeit lieferte das News Management die passende Story zum vergangenen Muttertag 1972. Neugeborene Kinder, die schreien, weil ihnen der vom Mutterleib gewohnte Herzton der Mutter abgeht, werden in Zukunft ohne Mutterherz beruhigt: Ein- Herzton-Simulator wird mit Hilfe eines Lautsprechers das Ohr des Kindes täuschen. Aber das ist nicht die Pointe der Geschichte. Der „Witz“ an dem Ganzen ist, daß der Mutterherzersatz nicht erprobt werden konnte. Es fehlten nämlich die Babys für die reihenweisen Testversuche. PS: Die Erfindung und das Drum und Dran ereigneten sich in Schweden.

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Von einer vaterlosen Gesellschaft zu hören, sind wir gewohnt. Diese Vorstellung gehört zum Progreß der sechziger Jahre und die Massenmedien haben dieses Schlagwort der Neuen Linken und anderer Gesellschaftskonstrukteure eifrig verbreitet. Zuweilen schien es, als gäbe es keinen Begriff, der heftiger verneint, kein Wort, das verächtlicher gemacht wurde, als das Hauptwort Vater oder ein damit zusammengesetztes Wort. Gottvater, nach dem laut Paulus alle Vaterschaft genannt ist, wurde für tot erklärt. Der Familienvater wurde zum Hanswurst der Roman- und Theaterliteratur. Das Vaterhaus bekam das Image eines Zuchthauses. Das Vaterland geriet unter Intellektuellen außer Evidenz; sie leben: ubi bene ibi patria. Vaterlandsliebe ist eine Art von Schwachsinn oder Neigung zum Töten. Vaterstadt — wo ist sie im Ballungsraum des Urbanismus?

Wohlgemerkt: diese Diffamierungen gelten nur in der freien Welt des Westens. In den „sozialistischen Ländern“ gelten andere Maßstäbe: Die Crackdivisionen Nordvietnams und die Verbände des Vietkong heißen offiziell „patriotische Streitkräfte“, denn diese kommunistischen Soldaten haben ein Vaterland. Laut offizieller sowjetischer Darstellung war der Krieg der UdSSR gegen das Dritte Reich der „Vaterländische Krieg“ und kein Krieg gegen die Faschisten. Stalin war zeitlebens „Väterchen Stalin“, und für den US-Präsidenten wenn nicht Väterchen, so „Onkel Joe“', Mao Tse-tung, Schwert des Marxismus, ist das patriarchalische Image usw. Die „vater-lose“ Gesellschaft ist für Kommunisten aller Konfessionen Produkt der Dekadenz des Kapitalismus. Man hat sich daher im Vaterland der Werktätigen derlei Demontagen energisch verbeten.

In der freien Welt des Westens ist es Aufgabe der Neuen Linken und ihrer Mitläufer, die Manipulation mit der vaterlosen Gesellschaft zu betreiben. Sie setzt darin nur fort, was vor ihr der individualistische Liberalismus begonnen hat. Tatsache ist, daß das im Kapitalismus entwickelte Industriesystem nacheinander Vater und Mutter aus der Familie für sich reklamiert und in seine Betriebe einrückend gemacht hat. Je mehr der Rush, der hemmungslose Fortgang der industriellen Revolution die Proletarier, die Kindermacher, aus ihrer erbärmlichen Ausgangslage befreite, desto weniger interessierten sich Technokraten und Konsorten um die gefährlichen Auswirkungen dieser Auslaugung der biologisch-ökonomischen und seelisch-geistigen Substanzen der Famijie. In dem fast geglückten Experiment des perpetuum mobile des Industriesystems, das nach den drei Phasen: investieren, produzieren, konsumieren die Produktivitätssteigerung antreibt, sind Vater und Mutter in erster Linie nicht Elternteile, sondern Produktivitätskräfte in der Fabrik und Konsumenten auf dem Markt. Und die kulturkämpferischen Parolen der bürgerlichen Blaustrümpfe um 1870 unterscheiden sich in nichts von heutigen einschlägigen Parolen der Linken: Emanzipation der Frau und Mutter von Kindern, Küche, Kirche. Es gibt heute kaum einen prominenten Preisträger der Roman- und

Bühnenliteratur, der nicht wenigstens für die Demolierung eines dieser „drei K“ ein Signum laudis hätte.

Die Images, Features und Klischees, die für die Propagierung der vaterlosen Gesellschaft und der anti-autoritären Tendenzen so gut ankamen, erwiesen sich zur Demontage des Mutterbildes weniger geeignet. Mag es gelingen, Babies mit Herzsimulatoren zu täuschen; Tatsache ist, daß das Neugeborene, das in den ersten 20 Monaten auf seine leibliche Mutter verzichten muß, Schäden erleiden kann, die nachher nie mehr beseitigt werden können. Darüber täuschen auch nicht die Theorien einer „elternfernen Erziehung“ der Neuen Linken hinweg, zu deren Erziehungs- und Bildungsideologie es gehört, daß leibliche Eltern erst nach einem Anlernverfahren imstande sind, Eltern zu sein. Da es sich um eine Ideologie der Linken handelt, bleiben anderslautende Erkenntnisse der Verhaltensforschung außer Ansatz. Es geht ja darum, hic et nunc das Continuum einer Kultur schon im Elternhaus zu unterbrechen.

Indessen: wer möchte wirklich auf Mutterliebe verzichten. Wer denkt bei sich über Mutterschaft so, wie er es in Romanen lesen, auf Bühnen sehen kann. Wer würde dreckige Witze über Mutterfreuden seiner Mutter oder der Mutter seiner Kinder zumuten. Wer gebraucht im tiefsten Schmerz und in der größten Freude eine andere Sprache als die Muttersprache. Wer möchte nicht gewissen Typen zwecks Vermenschlichung mehr Mutterwitz gönnen. Und wer weiß nicht, wie mutterseelenallein heute zehntausende alte Mütter in dieser Stadt Wien sind; die ihre Wohnungen in hochgelegenen Stockwerken längst nicht mehr verlassen können; die auf „Essen auf Rädern“ angewiesen sind; die zu den Feiertagen von Amts wegen erfreut werden; und deren Totenbett oft tage- und wochenlang weder amtsbekannt noch von Nachbarn bemerkt wird: weil sie niemandem abgehen.

Seit Vater und Mutter in den Betrieb eingerückt sind, ist die „Eigenproduktion“ im Familienleben und -erleben bescheiden geworden. Die von der Efflciency ausgemergelten Familienerhalter beider Geschlechter müssen selbst zuerst körperlich und seelisch auftanken, bevor sie „den Rest der Familie“ ertragen und tragen können. In seinen Kindheitserinnerungen beschreibt Maxim Gorki, welche „Eigenproduktionen“ eine russische Proletarierfamilie in dem schmalen Raum zwischen Fabrik und Branntweinkneipe noch zustande brachte. Kaum eine mit Intellektuellen bestückte Familie von heute wäre willens und in der Lage, bei Ausfall der modernen Unterhaltungsmittel auf die Dauer die „Langeweile des Alltags“ zu ertragen. Und sei es im Erlebnis des Schmerzes, des Tragischen, der „Unerfreulichkeiten“, die die Animateure der heutigen Zeit unter allen Umständen „übertönen“ möchten.

Wie viele Ehen wurden am Krankenbett der Mutter oder eines Kindes geheilt, die in anderen Betten ruiniert wurden. Wieviel Halt und Gehalt gibt einer Ehe das ganze Erlebnis mit Kindern, wenn es jenseits des vom Präsidenten unseres Obersten Gerichtshofes festgestellten „rechtswidrigen Sexualmonopols der Ehe“ stattfindet. Keine Angst: jetzt mündet das Ganze nicht in die Idylle der Spitzweg-Bilder.

Die Situation der modernen Stadlfamilie hat der amerikanische Soziologe George C. Homans in seinen Untersuchungen der sozialen Gruppe (in deutscher Ubersetzung: Köln, 1965) erkundet. Das Programm der Neuen Linken und Konsorten, wonach die Familie zum Verfall bestimmt ist, widerlegt Homans. Nach gehöriger Kritik der Zustände in Familie und Gesellschaft resümiert der Amerikaner angesichts der Verhältnisse in den USA: Die Ehe ist nach wie vor die erfolgreichste menschliche Institution. Und: wir haben ^hre Möglichkeiten bei weitem nicht erschöpft. Ende des Zitats. Der Trouble in den europäischen Provinzen des Amerikanismus ist, daß wohl die vielfach unwissenschaftlichen Meinungen der Kinsey-Reports Teil einer Art von „Allgemeinbildung“ geworden sind, während die Ergebnisse der längst über derlei Reports hinweggegangenen experimentellen Soziologie außer Evidenz bleiben, weil Meinungen weniger strapaziös sind als Denken.

Nicht die Möglichkeiten der Ehe sind erschöpft, wohl aber erschöpfen die in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft herrschenden Apparaturen die

Familie. Von den Tagen des Wirtschaftsliberalismus bis in die Tage des Sozialismus fördert die staatliche Sozialpolitik vorwiegend das Individuum, vernachlässigt sie die kleinen sozialen Gemeinschaften, ohne die der-einzelne Mensch in der ungeheuren Weite zwischen dem Individuum und dem Staat untergeht. Noch mehr: die Gesellschaftsingenieure produzieren an Stelle der Familie jene Surrogate, in denen der Mensch der Zukunft daheim sein wird: Säuglingsheime, Tageskrippenheime, Kinderheime, Lehrlingsheime, Studentenheime, Ledigenheime, Arbeiterheime, Parteiheime, Urlaubs- und Erholungsheime, Ferienheime, Genesendenheime, Pensionistenheime, Altersheime usw. bis zum Heimgang zur letzten Heimstatt. Der Material-, Sach- und Personalaufwand dieses Heimwesens, dessen Maximum bei weitem noch nicht erreicht ist, wird zuletzt in rein materieller Hinsicht bei weitem jenen Finanzbedarf übersteigen, der für eine effiziente Familienpolitik notwendig wäre, die auf der Höhe der Zeit steht.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Hier wird nicht mit der alleinstehenden Mutter gerechtet, die nicht weiß, wem sie ihr Kind anvertrauen kann, um dem Lebenserwerb nachzugehen. Oder mit Kindeseltern, die in die Armee des Industriesystems eingezogen wurden, die bei bloß einem berufstätigen Familienerhalter keine Chance mehr hätten. In diesen Zeilen geht es um das eine System, das sich um die Familie nicht kümmert, wenn genug Arbeitskräfte und Konsumenten gesichert sind; und um das andere, das programmiert die Familie außer Evidenz bringen möchtP, weil sie keinen Platz in der bezüglichen Ideologie hat.

Der individualistische Liberalismus hat die Demontage der Familie nolens zur Kenntnis genommen. Der Marxismus und die meisten im Anschluß daran stattfindenden Denkrichtungen sind auf die Beseitigung der Reste jener von der „bürgerlichen Gesellschaft“ hinterlassenen Form der Familie aus, auf die Entlarvung jener „Heuchelei um Ehe und Kindererziehung“. Gewiß, man trifft solche orthodoxe Auffassungen im lauwarmen Klima des traditionellen Sozialismus von heute selten. Aber die Neue Linke der Beat-Generation, vertreten in fast allen Parteien und Kirchen, hat diese ideologische Antiquität der Ur-Ur-Großväter reproduziert und Scharen junger Menschen in den Vorstellungen präpariert, die um 1830 unerhört progressiv waren: in den guten Stuben liberaler Bürger und in esoterischen Zirkeln abgehauster Feudaler.

Die Sozialpolitik in der freien Welt ist individualistisch ausgerichtet. Sie hat in den Massen die Armut nicht beseitigt. Die Existenzunsicherheit, Wurzellosigkeit und Nichtigkeit des einzelnen aber in unzähligen Fällen zu einer Geisel der Menschheit in der Massengesellschaft der Ballungsräume gemacht, die jene jungen Menschen spürten, die aus dieser Gesellschaft ausziehen.

Der Individualismus, der im Liberalismus und im liberalen Erbe des Marxismus steckt, ist Nachlaß des 18. Jahrhunderts. Seither werden systematisch die zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat bestandenen sozialen Gruppen ausgeräumt, Neubildungen deformiert und verstümmelt und alles einer Utopie Rousseaus geopfert: Jenem Kollektiv, das die Teilchen der atomisier-ten Gesellschaft kommassiert und namens eines politischen Dogmas — des „Gemeinwillens“ des Volkes volonte generale —, das ideologisch und nicht wissenschaftlich begründet ist, regiert.

Und inmitten der „Wohlstandsgesellschaft“ im perfekten „Wohlfahrtsstaat“ verkümmern notwendige, aber schutzbedürftige soziale Gruppen: Die Familie, die Jugend, die Menschen im dritten Lebensalter u. a., denen die Fittings zum Mechanismus des Industriesystems fehlen: deren Lebensnotwendigkeiten durch das Sieb der arrivierten Sozialpolitik fallen. Indem die alten Arbeiterparteien den Ertrag ihres heroischen Zeitalters unter den politischen Denkmalschutz des heute von ihnen beherrschten Staates stellen, legen sie sich quer über den Fortschritt im Interesse einer qualitativen und nicht bloß quantitativen Veränderung der Sozialpolitik. Sozialpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts ist nicht nur Potenzierung des einzelnen, sondern zugleich Intensivierung der sozialen Gruppe, in der jenes Leben stattfindet, das im kapitalistischen Stadtexperiment von Los Angeles bereits stirbt, im sozialistischen der Bunkerstadt Kagran-Wien kaum zum Dasein kommt.

Wenige Tage vor dem diesjährigen Muttertag wollte das Zweite Deutsche Fernsehen eine der gewissen Schockbehandlungen des verrotteten Gewissens des Wohlstandsbürgers anbringen, mit denen die Massenmedien ihr Alibi in Sachen Menschlichkeit erbringen möchten. Statistiken zufolge ist in der BRD Säuglingssterblichkeit und Kindermißhandlung und -tötung häufiger als anderswo und je zuvor. Die herrschende Kinderfeindlichkeit — Bestandteil der Mentalität: vaterlos, mutterlos — wurde mit sehr düsteren Aussichten auf die Zukunft konfrontiert. Noch kann die „öffentliche Hand“ mit Hilfe von Krankenschwestern aus Korea, Hilfsschwestern aus Makedonien, Hilfsärzten aus Entwicklungsländern, die sich lieber hierzulande entwik-keln, Nonnen aus Indonesien, Erziehern, die man in letzten Reservaten auskämmt, Präsenzdienern, die man zu Krankenpflege preßt, Häftlingen, die Gräber schachten, relativ gut bezahlten Hilfen usw. schlecht und recht das zuwege bringen, was einmal Mutterhände taten und Väter vorsorgten. Mutterhände, deren Inhaber im perfekten Sozialstaat leer ausgehen und im Alter auf ein schwach entwickeltes Armenrecht im Notfall angewiesen bleiben.

Das Industriesystem wird finanzielle Mittel schaffen, um das Heimwesen auszubauen und modernst einzurichten. Wo aber werden in der Freizeitgesellschaft, ohne Nachschub aus unterentwickelten Ländern, jene Menschen heranwachsen, die für Dritte das tun, was sie selbst innerhalb der „eigenen Familienzugehörigkeit“ unter keinen Umständen tun wollen? Weil es, wie man unlängst aus dem Munde einer sehr kultivierten Dame und Staatsmännin hören konnte, Tätigkeiten sind, die in der Steinzeit von Müttern und Vätern getan wurden?

Keine bloßen Blumen und Kränze auf Gräber der Vergangenheit. Keine Konsumsteigerung zufolge geschenkweiser Ablöse für Liebe. Verschu-lung, Verheimung, Vereinzelung des Menschen. Mut zur Familie. Ideen zu sachgerechten Wegen, keine Auswege. Entschiedenheit für eine Sozialpolitik, Jahrgang 1972 und nicht 1940 und vorher.

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