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Ende der Illusionen
De iure erfolgt die Trennung von Tschechen und Slowaken erst in einigen Monaten. De facto ist sie schon eine gelaufene Sache
De iure erfolgt die Trennung von Tschechen und Slowaken erst in einigen Monaten. De facto ist sie schon eine gelaufene Sache
Vor ungefähr drei Jahren, nach dem November 1989, herrschten in der Tschecho-Slowakei einige gemeinsam geteilte Illusionen: die Illusion von der Einheit der demokratischen Kräfte, die Illusion der unbegrenzten Lebenschancen der Persönlichkeit und schließlich die Illusion, daß die Bürger der CSFR einen unausschöpflichen Charme für die „Welt" besitzen. Jetzt steht man am Grab dieser Illusionen.
Die Tschechen sind nicht so sehr erregt über die slowakischen separatistischen Tendenzen wie darüber, daß es gerade die Slowaken sind, die die Tschechen aus ihrer Selbstbezauberung zu erwecken wagten.
Den tiefsten Schock erlebten die Tschechen in dem Moment, da die Slowaken Vaclav Havel als Präsidenten ablehnten. Die Ablehnung Havels war ein Totschlag für den tschechischen Narzißmus. Nicht eine konkrete Person, sondern ein Symbol der „tschechoslowakischen" Selbstherrlichkeit war abgeworfen worden.
Die siegreiche Bürgerlich-Demokratische Partei (ODS) hat keine vergleichbar charismatische Persönlichkeit in ihren Reihen. Sie hütet sich auch davor, auf das Prinzip des charismatischen Führers zu bauen. Ihre Funktionäre sind Beamte. „Gott sei Dank", sagen dazu manche Tschechen, wenn sie sehen mit welch „beruhigender Kälte" diese Beamten mit dem in ihrer Sicht eruptiven slowakischen Ministerpräsidenten Vladimir Meciar verhandeln.
Ein ganz persönliches Zeugnis: Gleich im November 1989 gründete ich mit einem Kollegen, einem Architekten, eine kleine Agentur namens P.R.AHA, die für das Bürgerforum (OF) Plakate und Flugblätter produzierte und verteilte. Noch verfolgte uns die Staatssicherheit. Ohne Bezahlung der Künstler und Drucker haben wir wörtlich über Nacht Zehntausende Plakate mit Havel gedruckt und mit der - selbstverständlich ebenfalls kostenlosen - Hilfe von Studenten in ganz Prag affichiert. Das Papier sowie die Farben waren Gaben von anonymen „Helden" (oder Dieben).
Revolutionäre Logik
Jetzt habe ich eine Vorladung bekommen, daß ich als damaliger Stellvertreter des Direktors die Agentur offiziell auflösen soll. Sonst drohe mir selbst im Falle, daß wir damals alles geschenkt bekommen hätten, die Berechnung einer Umsatzsteuer, die dann rückwirkend zu zahlen sei. Kurz und gut: die revolutionäre Logik gilt nicht mehr.
Auch in der Slowakei hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Viele Menschen sind über die Züge der kommenden Totalitarität erschrok-ken. Als fatal kritisieren manche die historische Verbindung zwischen dem slowakischen Katholizismus und dem Antisemitismus. Bevor sich das slowakische Volk noch von dieser historischen Schuld befreien wird, drohen ihm schon Konflikte mit Ungarn, der Ukraine und Polen. Eine - wie Beobachter es nennen - „Tolerierung der alten Sünden" wirft die katholische Kirche in der Slowakei weit zurück.
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