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Ende der Phantomkirche

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Wenn sich am 12. Dezember Zehntausende Pilger nach oft tage- und wochenlangen Fußmärschen am allerheiligsten Wallfahrtsort zur, Jungfrau von Guadalupe" versammeln und sich mit ekstatischen Tänzen daran erinnern, daß an diesem Tag im Jahre 1531 die Gottesmutter dem kleinen Indianerjungen Juan Diego erschienen ist, wird für die katholische Kirche in Mexiko eine neue Ära begonnen haben.

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Wenn sich am 12. Dezember Zehntausende Pilger nach oft tage- und wochenlangen Fußmärschen am allerheiligsten Wallfahrtsort zur, Jungfrau von Guadalupe" versammeln und sich mit ekstatischen Tänzen daran erinnern, daß an diesem Tag im Jahre 1531 die Gottesmutter dem kleinen Indianerjungen Juan Diego erschienen ist, wird für die katholische Kirche in Mexiko eine neue Ära begonnen haben.

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Die seit 1917 unumschränkt regierende quasi-sozialistische „Revolutionspartei" (PRI) wird auf Betreiben von Staatspräsident Carlos Sahnas im Kongreß all die Verfassungsartikel ändern, die den Religionsgemeinschaften und den Priestern in Mexiko wesentliche Bürger- und Menschenrechte vorenthalten.

Der an Harvard (USA) ausgebildete liberale Wirtschaftswissenschafter Carlos Sahnas hält im Zuge seines umfassenden „Programms der Modernisierung" den traditionellen An-tikJerikalismus seiner staatstragenden „Revolutionspartei" für genauso überholt wie die berühmten Pancho-Villa-Schnurrbärte vieler Mexikaner. Der Staatspräsident verfolgt daher seit seiner Amtsübernahme im Dezember 1988 eine Politik der konsequenten Aussöhnung mit der katholischen Kirche und ist in den letzten Monaten wiederholt mit Vertretern der Bischofskonferenz zusammengetroffen. Die angekündigte Ve/fassungsreform beendet damit einen weit über hundert Jahre dauernden teilweise blutigen Kampf zwischen Staat und Kirche in Mexiko.

Streng laizistische Verfassung Wie Kardinal Juan Jesus Posadas Ocampo von Guadalajara bemerkte, geht es vor allem um den Verfassungsartikel 130, der festschreibt, daß „das Gesetz keine Rechtsfähigkeit von religiösen Gruppen, die sich Kirchen nennen, kennt". Der Staat müsse daher, so der Kardinal, zunächst anerkennen, daß die Kirche überhaupt existiere, sonst würde sie weiterhin ein „absurdes juristisches Phantom" darstellen, in einem Land, in dem weit über 90 Prozent der Bevölkerung der katholischen Kirche angehören. Die Bischöfe konnten daher offiziell von der Verfassungsreform gar nicht verständigt werden.

Seit 1917 ist es gemäß der streng laizistischen Verfassung des damaligen Staatspräsidenten Venustiano Carranza katholischen Priestern nicht erlaubt, außerhalb der Gotteshäuser Messen zu zelebrieren, Meßgewänder zu tragen oder in Schulen Religionsunterricht zu halten. Die Kirche darf selbst keine Schulen, Lehrerbildungsanstalten, Universitäten oder andere soziale Institutionen betreiben. Ihr gesamter Immobilienbesitz gehört dem Staat und ist ausschließlich der öffentlichen Verwendung gewidmet; auf zur Kirche gehörenden Grundstücken dürfen keine neuen Gebäude errichtet werden. Die Verfassung verbietet nach wie vor die Gründung von neuen Ordensgemeinschaften, „was immer ihr Bekenntnis oder der Zweck ihrer Gründung auch sei". Die Änderung dieser Verfassungsartikel könnte, meinen politische Beobachter, noch vor 1994 zur Wiederaufnahme der bereits 1859 unter Präsident Benito Juarez (Trennung von Staat und Kirche) abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zwischen dem Vatikan und Mexiko führen.

Die Bischöfe von Mexiko haben mit der Unterstützung von Papst Benedikt XV. die Verfassung von 1917 empört abgelehnt. Am Höhepunkt der anti-katholischen Politik des Präsidenten Elias Calles rief der greise und mit der Kunst der politischen Intrige vertraute Kardinal-Primas Jose Mora y del Rio sogar zu einem „Kirchenstreik" (1926-1929)

auf, der aber weitgehend ohne Wirkung blieb, da besonders die Landbevölkerung die Gottesdienste und die verschlossenen Kirchen nicht sonderlich vermißte.

Dem ging ein jahrzehntelanger Kampf zwischen der politisch hoch aktiven Kirche und den liberalen und später „staatssozialistischen" Revolutionsbewegungen voraus. Seit 1519, der Unterwerfung der Azteken durch Hernan Cortez, bildete die Kirche eine „Patronato Real", die wohl wesentlichste Stütze des königlich-spanischen Kolonialismus in Mittelamerika. Sie trat daher gegen die Unabhängigkeit Mexikos auf und bildete ab 1821 eine enge Koalition mit den konservativen politischen Kräften.

Die Kirche mit ihrem weitgehend europäischen Hochklerus geriet damit in Konflikt mit den mexikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und hat mit der Machtübernahme des Revolutions-Präsidenten Benito Juarez ab der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend allen politischen Einfluß verloren. 1910 bildete sich mit Unterstützung der Bischöfe eine vom Gedanken der Sozialreform (Rerum noyarum) getragene katholische Partei, die zum Hauptgegner der quasisozialistischen Revolution ab 1911 wurde, und die Entrechtung der Kirche durch die Verfassung von 1917 erklärt.

Kritik von den Kanzeln

Über 70 Jahre später ist die politische Glaubwürdigkeit der regierenden Revolutionspartei durch zahllose Korruptionsskandale stark beeinträchtigt. Sie konnte erst im August 1991 bei den Parlamentswahlen nur mit großen Anstrengungen ihre absolute Mehrheit behaupten. In einigen Bundesstaaten Mexikos wurden die Wahlergebnisse wegen Wahlbetrugs sogar aufgehoben.

Dagegen erfreut sich die katholische Kirche laut einer Meinungsumfrage des Nachrichtenmagazins „Nexus" bei der Bevölkerung großer Wertschätzung: Das öffentliche Schulsystem und die Kirche werden als die beliebtesten Einrichtungen im Lande angesehen. Die Unterstützung der Kirche ist unter der Landbevölkerung - im Vergleich zum vergangenen Jahrhundert - besonders ausgeprägt, da sich Priester nicht selten für die Rechte der Bauern gegenüber den Grundbesitzern einsetzen.

Beobachter der mexikanischen Politik bezeichnen die Tatsache, daß heute von der Wallfahrtskirche der „Jungfrau von Guadalupe" wieder die Staatsflagge weht als Erfolg für Präsident Sahnas; Die Verfassungsreform könnte die aufkommende Kritik an seiner Regierung, die nicht selten von den Kanzeln vorgetragen wird, unter der Landbevölkerung, den Campesi-nos und den Bewohnern der Elendsviertel für einige Zeit zum Verstummen bringen.

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