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Ende in Spandau

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Der Selbstmord des 93-jährigen Rudolf Heß im Spandauer Gefängnis gibt eine Ahnung vom Leidensdruck seiner insgesamt 46 Haftjahre unter meist sehr strengen Bedingungen.

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Der Selbstmord des 93-jährigen Rudolf Heß im Spandauer Gefängnis gibt eine Ahnung vom Leidensdruck seiner insgesamt 46 Haftjahre unter meist sehr strengen Bedingungen.

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In Spandau sei ein Symbol gestorben, sagte, zutreffend, Hugo Portisen am Abend nach Heß' Tod im österreichischen Fernsehen. Die Bemerkung bezog sich auf die Bedeutung des Gefängnisses als Relikt der Viermächte-Koalition gegen Hitler, denn bis zum 17. August übergaben hier Amerikaner, Sowjets, Briten und Franzosen einander monatlich die Bewa-chungs- und Verwaltungsfunktionen, reichten die Kommandanten einander die Hand.

Aber Spandau hatte auch noch einen anderen, weniger harmlosen Symbolwert. Alle, die ein Interesse hatten, den Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß zu verteufeln, machten Spandau zum Symbol für „Siegerjustiz”, „Rache”, „Schuldsprüche wegen Handlungen, die zur Tatzeit nicht strafbar waren”. Und mancher, der sich keinen Deut um das Schicksal eines greisen, wegen Raubmordes oder Notzucht seit Jahrzehnten einsitzenden „Lebenslangen” schert (denn in der Bundesrepublik Deutschland werden diese keineswegs automatisch begnadigt), sprach im Zusammenhang mit Heß von „Un-barmherzigkeit”.

Es war freilich so etwas wie ein schlechter Treppenwitz der Weltgeschichte, daß ausgerechnet Rudolf Heß zwanzig Jahre als einziger Gefangener den Spandauer Wachmannschaften Existenzberechtigung verschaffte. Wenn man überhaupt eines der Nürnberger Urteile in Zweifel ziehen kann, dann das „Lebenslang1* für ihn.

Als einziger in Nürnberg Verurteilter war er nach den Anklagepunkten drei und vier (Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) freigesprochen und somit nicht mit Mordtaten in Zusammenhang gebracht worden. Auch wenn das viele schon bald nach dem Prozeß nicht wahrhaben wollten: Alle anderen Schuldsprüche des Nürnberger Tribunals halten einer Uberprüfung unter den in jedem Strafgesetzbuch der Welt in Paragraphen gefaßten Kriterien für Mord, Teilnahme am Mord, Anstiftung zum Mord und so weiter ohne weiteres stand.

In allen Fällen, in denen Angeklagte wegen ihrer Involvierung in die nationalsozialistischen Mordtaten, zugleich aber auch wegen Verbrechens gegen den Frieden beziehungsweise Planung eines Angriffskrieges verurteilt wurden, fielen die Mordtaten am schwersten in die Waagschale und waren entscheidend für das Ausmaß der Strafe.

Einzig Rudolf Heß büßte tatsächlich nur wegen seines Anteiles an der Verantwortung für Hitlers Krieg. Eine Flut von kritischer Literatur über den Nürnberger Prozeß, die sich in die rückwirkenden Paragraphen verbeißt, geht völlig am Faktum vorbei, daß diese Erörterung nur im Fall Heß praktische Bedeutung hat. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß alle Hingerichteten, soweit sie des Verbrechens gegen den Frieden schuldig waren, auch wegen ihres Anteils an Morden und Unmenschlichkeiten allein aufgehängt worden wären.

Die Frage, warum dann Rudolf Heß so hart bestraft wurde, kann heute mit einiger Sicherheit beantwortet werden—auch wenn die Protokolle der geheimen Beratungen über Schuldsprüche und Strafen noch nicht veröffentlicht sind.

Alles, was — durch Äußerungen Beteiligter gegenüber Historikern - darüber bisher bekannt wurde, deutet darauf hin, daß es am Ende eines komplizierten und langwierigen Abstimmungs-Tauziehens den drei westlichen Mitgliedern des Tribunals zuletzt nur noch darum ging, wenigstens das vom sowjetischen Richter Generalmajor der Justiz Iola Nikit-schenko mit äußerster Schärfe und sicher auf direkten Befehl Stalins geforderte Todesurteil gegen Rudolf Heß zu verhindern. Zwei von ihnen hatten Heß überhaupt freisprechen wollen.

Hätten sie sich durchgesetzt, wäre heute vielleicht das Image des Nürnberger Tribunals besser, wären Vorurteile über den Prozeß, der, alles in allem, überaus fair geführt wurde, vielleicht längst ausgeräumt.

Das soll nicht heißen, daß Heß ein Unschuldslamm war. Er war bis zum Krieg alleiniger und dann zweiter Stellvertreter Hitlers (nach Göring). Verbrechen, die gegen Deutsche und das deutsche Volk begangen worden waren, wurden in Nürnberg nicht behandelt. Die Abschaffung des Rechtsstaates, die Verfolgung der deutschen Juden, die Errichtung der Konzentrationslager im „Reich” waren nicht Teil der Anklage.

Als Internationales Militärtribunal verhandelte der Gerichtshof ausschließlich über Verbrechen, die deutsche Politiker und Militärs gegen Angehörige anderer Völker begangen hatten. Anderenfalls wäre auch Franz von Papen, der „Steigbügelhalter Hitlers”, kaum freigesprochen worden.

Auch die überfällige Korrektur am Image des Nürnberger Prozesses, die nun nach dem Tod des letzten Verurteilten vielleicht beginnen wird, kann eine große Ungereimtheit nicht ignorieren: Die „Sterne eines neuen Völkerrechtes”, nach denen der amerikanische Hauptankläger Robert Houghwout Jackson in Nürnberg greifen wollte, sind spätestens in Vietnam untergegangen.

Der im Golf von Tongking von Amerikanern inszenierte Angriff auf ein amerikanisches Kriegsschiff hatte makabre Ähnlichkeit mit dem gestellten „Überfall” auf den Sender Gleiwitz, mit dem Hitr ler sich den Vorwand für den Angriff auf Polen verschaffte.

Und einiges, was amerikanische Vietnam-Generäle, von William Westmoreland abwärts, zu verantworten hätten, kann wohl nicht mit der Schuld des in Nürnberg gehenkten Wilhelm Keitel verglichen werden, steht aber kaum hinter der des ebenfalls gehenkten Alfred Jodl zurück. Weshalb man auch in Washington nicht mehr viel über den Nürnberger Prozeß redet.

Rudolf Heß war aber nicht nur letztes Symbol der alliierten Kriegskoalition und eines von vielen Symbolen nicht nur deutscher Verdrängungen.

Heß war auch ein Symbol für halbgelüftete zeitgeschichtliche Geheimnisse. In der Kleiderkammer des Spandauer Gefängnisses hing bis zu seinem Tod die pelzgefütterte lederne Fliegerkombination, in der der „Stellvertreter des Führers” am 10. Mai 1941 in Augsburg in ein Jagdf lugzeug der Type Me 110 — mit Zusatztanks! — kletterte und über Schottland absprang. Angeblich wollte er völlig auf eigene Faust Frieden stiften. Die Protokolle seiner Vernehmungen sind nach wie vor unzugänglich. Sie zählen zu den bestgehüteten, geheimsten Akten Englands.

Offizielle Lesart: Hitler wußte nichts von Heß' geplantem Flug, Heß erschwindelte sich das Flugzeug.

Hätte Hitler davon gewußt, wäre nach dem Scheitern der Mission seine Beteuerung vollständiger Ahnungslosigkeit nur zu verständlich. Wäre andererseits Heß nicht nur als Kriegsgefangener „verhört” worden, hätten die Engländer seine Angebote doch nicht so schnell und diskussionslos abgelehnt, hätte, auch Portisch deutete es im Fernsehen an, vielleicht doch der eine oder andere einflußreiche Mann vorübergehend mit einer Koalition mit Hitler gegen die Sowjetunion geliebäugelt — wäre Londons Geheimhaltung verständlich und anzunehmen, daß nicht nur in Moskau, sondern auch in London wenig Interesse an einer Freilassung des Lebenslangen von Spandau bestand.

Der gefährliche Zeitzeuge, zu dem er da und dort stilisiert wurde, war er freilich auch nicht. Geisteszustand und Erinnerungsvermögen Heß* zählten zeitweise zu den beliebtesten Gesprächsthemen am Rande des Nürnberger Prozesses.

Die Papiere, die Heß als Hitlers Stellvertreter unterschrieben hatte, zählten zum harmloseren Teil des in Nürnberg vorgelegten Beweismaterials. Seine Mitarbeit an „Mein Kampf” hatte sich auf bescheidene stilistische Tips beschränkt, und die Ratschläge, die er Hitler gegeben hatte, soweit dieser sich welche geben ließ, hatten immer noch zu den vernünftigeren und menschlicheren gezählt.

Während in Nürnberg die Anklageschrift verlesen wurde, las Heß in einem Buch mit dem Titel „Der Loisl”, wobei er sich so amüsierte, daß er plötzlich laut zu lachen begann. Als er sein „Schuldig!” oder „Nichtschuldig!” sagen sollte, beschränkte sich Görings Sitznachbar zur Linken auf ein in den Saal gerufenes „Nein!”.

Zeitweise konnte er sich angeblich an nichts erinnern, dann stand auf einmal sein Gedächtnis wieder „voll zur Verfügung”.

Jahrzehntelang wünschte er keinen Besuch seiner Familie. Es hatte Jahre gedauert, ehe er wenigstens mit seinen Mitgefangenen Speer und Schirach sprach.

Wie immer man Heß* Schuld bewertet - daß 40 Jahre Haft nach dem Urteil dieser Schuld angemessen waren, kann wohl niemand behaupten, der sich einiges Augenmaß bewahrt hat und daran denkt, wie billig andere, Befehlserteiler und willige Befehlsempfänger mit Blut an den Händen, davongekommen sind und daß zwei andere „Lebenslange” von Spandau schon vor Jahrzehnten freigelassen wurden.

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