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„... endlich an die Wand stellen!“

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Vor genau 30 Jahren, am 20. November 1945, begann der Nürnberger Prozeß. Es gibt unter den zeitgeschichtlichen Themen Von vergleichbarer Bedeutung kaum eines, über welches ein größeres Informationsmanko besteht. Kaum eines, das so oft verzerrt und einseitig dargestellt wurde. Viele Jahre wurde der Nürnberger Prozeß im einträchtigen Zusammenwirken aller Beteiligten verdrängt. Allzuoft hat überdies die Darstellung des Prozeß - Inhaltes, der in Nürnberg zur Sprache gekommenen Verbrechen, die Darstellung des Prozesses selbst als zeitgeschichtliche Ereignis überwuchert. '

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Vor genau 30 Jahren, am 20. November 1945, begann der Nürnberger Prozeß. Es gibt unter den zeitgeschichtlichen Themen Von vergleichbarer Bedeutung kaum eines, über welches ein größeres Informationsmanko besteht. Kaum eines, das so oft verzerrt und einseitig dargestellt wurde. Viele Jahre wurde der Nürnberger Prozeß im einträchtigen Zusammenwirken aller Beteiligten verdrängt. Allzuoft hat überdies die Darstellung des Prozeß - Inhaltes, der in Nürnberg zur Sprache gekommenen Verbrechen, die Darstellung des Prozesses selbst als zeitgeschichtliche Ereignis überwuchert. '

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Frühling 1945. Ein Krieg ist zu Ende, Deutschland ein Leichenfeld, ein Kontinent liegt in Trümmern, eine Welt. Die Schuldigen werden, soweit sie den Untergang ihres Regimes überlebt haben, von den alliierten Armeen eingesammelt. Noch weiß niemand, was mit ihnen geschehen soll.

Rudolf Heß, der einstige „Stellvertreter des Führers“, ist seit 10. Mai 1941 — seinem Alleinflug nach England — in britischer Hand. Jenem späteren Angeklagten von Nürnberg, der als zweiter in alliierte Hand geraten ist, dem Rundfunkkommentator Hans Fritzsche, hat zwischen den Ruinen von Berlin ein sowjetischer Unteroffizier mühsam von einem Blatt die Worte „Sie sind verhaftet“ vorgelesen.

Herman Göring, der „Reichsmarschall“, hat sich Anfang Mai 1945 bei Wagrain mit Frau, Tochter, Zofe, Leibkoch, Kammerdiener, Panzerlimousine und 17 Lastwagen persönlichem Gepäck in amerikanische Gefangenschaft beigeben. Seit dem Funkspruch vom 23. April, in dem er den in Berlin eingeschlossenen Hitler mehr oder weniger direkt aufforderte, ihm die Macht abzutreten, und Hitlers Antwort, die in einem Festnahmebefehl bestand, hat Göring Grund, die SS rnehr zu fürchten als die Amerikaner. Am Nachmittag hach seiner- Gefangennahme' sitzt er zum letzten Mal in seinem Leben in einem gepolsterten Lehnsessel. Ein amerikanischer Reporter fragt ihn:

„Wissen Sie, daß Sie auf der Liste der Kriegsverbrecher stehen?“

„Nein, und es verwundert mich sehr, denn ich wüßte nicht, warum“, antwortet Göring.

In einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Berchtesgaden schneidet sich einer der Deutschen die Pulsader auf, wird gerettet, murmelt etwas vom Gewissen, bekennt, er heiße Hans Frank und führt die Soldaten zum Versteck mit seinen Tagebüchern und mit den Kunstschätzen, die er als Generalgouverneur von Polen zusammengerafft hat.

In einer Almhütte soll sich Doktor Robert Ley, der Führer der Deutschen Arbeitsfront, aufhalten. Amerikanische Soldaten treten mit entsicherten Maschinenpistolen im Anschlag die Tür ein, lassen die Waffen aber schnell sinken. Vor ihnen steht ein gebrochener Mensch, zitternd und stotternd von Nervosität. Er behauptet, Distelmeyer zu hefßen, wird aber schnell identifiziert.

Kanadische Marine bringt ein deutsches Schnellboot auf, das von Flensburg nach Holland entwischen will, und holen Dr. Arthur Seyß-Inquart von Bord, den letzten österreichischen Bundeskanzler von Hitlers Gnaden und „Reichskommissar“ in Holland. In Flensburg selbst wird die letzte deutsche Reichsregierung mit dem von Hitler zu seinem Nachfolger bestellten Großadmiral Dönitz an der Spitze verhaftet. Albert Speer gibt sich im nahegelegenen Glücks-buirg gefangen. Er sagt: „Es ist gut so. Es war ohnehin nur noch eine Art Oper.“

Aber noch in den letzten Momenten dieser „Oper“ haben Menschen völlig unnötig sterben müssen. Am 5. Mai hat die Deutsche Wehrmacht in Norddeutschland die Waffen niedergelegt und die „Regierung Dönitz“ hat in ihren schriftlichen Kapitulationsabmachungen mit Feldmarschall Montgomery den Briten garantiert, daß die mit britischer Erlaubnis weiter amtierenden deutschen Behörden jedes etwaige kriegsgerichtliche Urteil über mehr als zwei Jahre Freiheitsstrafe den Briten melden werden. Trotzdem werden unter der Verantwortung dieser Regierung Dönitz noch nach der Kapitulation fünf Angehörige der Deutschen Kriegsmarine, deren Oberbefehlshaber Dönitz ist, erschossen, ohne daß die Besatzungsmacht davon erfährt. Darunter ein Maschinengefreiter, der,' nach dem Ende des Krieges, wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt wird, weil er einen Befehl zwar ausgeführt, aber „gehässig kommentiert“ und einem Vorgesetzten die Ehrenbezeigung verweigert hat. Sein Vater hat in diesem Krieg schon vier Söhne verloren, seine Frau erwartet ein Kind, er selber ist ein halbes Kind, Vizeadmiral Rogge lehnt es ab, ihn zu begnadigen. Ein Verfahren, das — lang nach dem Krieg — deshalb gegen Rogge eingeleitet wurde, verlief (wie nicht anders zu erwarten) im Sand.

Großadmiral Dönitz und Generaloberst Jodl, der in den letzten zehn Tagen als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht — allerdings ohne Wehrmacht — amtiert hat, werden von den Briten auf den Passagierdampfer „Patria“ befohlen und dort festgesetzt. Feldmarschall • Keitel

Tage nach der Unterzeichnung der letzten und endgültigen Kapitulationsurkunde in Berlin verhaftet. Reichsaußenminister von Ribbentrop wird von englischen Soldaten aus einem Bett geholt, in dem er sich noch während der Durchsuchung der Wohnung, in der er Unterschlupf gefunden hat, schlafend stellt. Streicher verkleidet sich als Maler, wird aber hinter seiner Staffelei von einem vorbeifahrenden amerikanischen Offizier erkannt. Baidur von Schirach, einst Chef der Hitler-Jugend und Hitlers Reichsstatthalter in Wien, findet unter falschem Namen als Dolmetscher bei der amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich Zuflucht, stellt sich aber auf die Nachricht, daß die Hitlerjugend korporativ angeklagt werden soll. Schacht wird am Pragser Wildsee gemeinsam mit .dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg, einem Neffen Molo-tows, einem Neffen Churchills, Pastor Niemöller, dem Industriellen Thyssen und anderen prominenten Konzentrationslagerhäftlingen aus den Händen von SS-Leuten befreit, die den Befehl, die Gefangenen zu erschießen, vorsichtshalber nicht mehr befolgt haben.

Seltsamerweise entgeht kein Mitglied der nationalsozialistischen Führungsgarnitur den alliierten Fahndern. Hitler, Goebbels und, wie man heute weiß, auch Martin Bormann sind tot. Himmler versucht unterzutauchen, fällt aber durch allzu neue Ausweispapiere auf den Namen Heinrich Hitzinger auf, läßt seine Tarnung — nachdem sie ohnehin durchschaut ist — fallen und begeht Selbstmord durch Zerbeißen einer in der Mundhöhle verborgenen Zyankaliphiole.

Uber das Schicksal der überlebenden politischen und militärischen Führer NS-Deutschlands sind sich die Alliierten selbst dann, als alle späteren Nürnberger Angeklagten, bis auf Großadmiral Raeder (der bis 23. Juni unangefochten als Pensionist in seiner Berliner Wohnung lebt), verhaftet und an einem geheimen Ort „irgendwo in Europa“ (nämlich in Bad Mondorf) gesammelt sind, noch keineswegs im klaren.

Die Vorgeschichte des Nürnberger Prozesses begann am ehesten im Jänner 1941 in London, wo die dritte interalliierte Konferenz die ersten Strafandrohungen gegen die Führung des Reiches aussprach — noch war allerdings lediglich von Verstößen gegen die Haaiger Konvention, also von Kriegsverbrechen, die Rede. Zehn Staaten unterschreiben eine Resolution, wonach die Schuldigen an den soeben bekanntgewordenen Massenhinrichtungen in den besetzten Ländern der Rechtsprechung übergeben werden sollen, gleichgültig, ob sie diese Taten angeordnet, selbst begangen oder in irgendeiner Weise daran teilgenommen haben.

Am 7. Oktober 1942 gründen, ebenfalls in London, 17 Nationen eine Kommission zur Untersuchung der Kriegsverbrechen, die noch während des Krieges Zeugen vernehmen und Listen von Kriegsverbrechern anlegen soll.

Am 1. November 1943 geben Churchill, Roosevelt und Stalin im Namen von 32 Nationen die sogenannte Moskauer Erklärung ab: Kein Waffenstillstand ohne Bestrafung der Kriegsverbrecher. Auslieferung aller, die Massenhinrichtungen oder sonstige Untaten befohlen oder sich daran beteiligt haben, an die leidtragenden Länder.

Einen Monat später prallen in Teheran die Standpunkte Stalins und Churchills mit einer für die damalige Zeit unerhörten Härte aufeinander. Bei einem gemeinsamen Essen der drei Regierungschefs Roosevelt, Churchill und Stalin zu vorgerückter Stunde, und nachdem die drei Männer auf einen schnellen Erfolg ihrer Offensiven, auf weitere Waffenlieferungen Amerikas an die Sowjetunion, auf gutes Flugwetter für die Bomber und alles, worauf man Ende 1944 eben im alliierten Lager trinken konnte, ihr Glas gehoben hatten, stand Stalin auf und sagte: „Ich trinke auf eine möglichst rasche Justiz für alle Kriegsverbrecher. Ich trinke auf die Justiz einer Erschießungsabteilung.“ In dem sofort entstehenden totalen Schweigen fuhr Stalin fort: „Ich trinke auf unsere Entschlossenheit, sie sofort nach der Gefangennahme zu erledigen, and zwar alle, und es müssen ihrer mindestens 50.000 sein!“

Churchill sprang auf, so daß sein Stuhl polternd umfiel, stand vorgebeugt, starrte Stalin mit rotem Kopf an und sagte: „Ein solches Vorgehen steht in schroffem Widerspruch zu den britischen Auffassungen von Recht. Das britische Volk wird nie und nimmer einen solchen Massenmord billigen.“

Stalin wandte ein, mit der Liquidierung von 50.000 Offizieren und Sachverständigen sei Deutschlands Rückgrat gebrochen, weshalb der Generalstab mitsamt einem großen Teil des deutschen Offizierskorps an die Wand gestellt werden müsse. Churchill antwortete: „Das britische Parlament und die britische Öffentlichkeit werden Massenexekutionen niemals gutheißen. Selbst wenn sie unter dem Eindruck der Kriegsleiden zuließen, daß damit begonnen wird, würden sie sich nach der ersten Schlächterei mit großer Heftigkeit gegen die dafür Verantwortlichen wenden. Die Sowjets dürfen sich in diesem Punkte keiner Täuschung hingeben.“

Stalin beharrte: „Die 50.000 müssen erschossen werden.“ Churchill sagte ihm ins Gesicht: „Lieber lasse ich mich hier an Ort und Stelle in den Garten hinausführen und erschießen, als meine Ehre und die meines Volkes durch eine solche Niedertracht zu beschmutzen.“

Niemand versuchte, in den Streit einzugreifen. Erst als Stalin Roose-velts Meinung hören wollte, antwortete der Präsident der USA: „Es ist klar, daß zwischen Ihrer Auffassung, Herr Stalin, und derjenigen des Premierministers ein Kompromiß gefunden werden muß. Wir könnten uns vielleicht darauf einigen, nicht 50.000 Kriegsverbrecher, sondern eine kleinere Zahl, sagen wir 49.500, summarisch hinzurichten.“

Churchill geht in den Nebenraum und bleibt mit Blick aus dem Fenster stehen. Stalin und Molotow folgen ihm. Stalin legt Churchill von hinten die Hände auf die Schultern und beide versichern ihm, es habe sich wirklich nur um einen Scherz gehandelt. Churchill ist nicht überzeugt, geht aber an die Tafel zurück.

Die Ironie der Geschichte will es, daß zuletzt die Briten vor einem Prozeß zurückschreckten und der Sonderbeauftragte des amerikanischen Präsidenten den Ausschlag für die Einsetzung des Nürnberger Tribunals gab.

Mehr als ein Jahr später, am 9. Februar 1945 und am letzten Tag der Konferenz von Jalta, das Kriegsende steht vor der Türe und Roosevelt ist ein vom Tode gezeichneter Mann, wird das Problem der Bestrafung der Kriegsverbrecher von den Großen Drei zum letzten Male erörtert. Churchill eröffnet das Gespräch, indem er Stalin an die Moskauer Abmachungen erinnert, denen zufolge die Hauptkriegsverbrecher nur gemäß einem „gemeinsamen Beschluß“ bestraft werden können. Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, lächelt Stalin freundlich an und sagt: „Sie müssen wissen, daß ich den Entwurf für diese Bestimmung in unserer Moskauer Erklärung selbst ausgearbeitet habe.“ Stalin zwingt sich zu einem Lächeln.

Er weiß, daß er den Erschießungsplan begraben kann. Die Entscheidung über das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher wird vertagt. Wenige Monate später sind sie alle verhaftet. Am 19. Mai 1945 erklärt der Moskauer Rundfunkkommentator Jermaschew: „Man soll sie endlich an die Wand stellen und erschießen!“ Inzwischen ist aber auch Großbritannien von der Idee eines Prozesses nicht mehr begeistert. Mag sein, daß man wenig Wert auf eine Durchleuchtung der eigenen Vorkriegsbeziehungen mit Hitler legt.

In dieser Situation tritt jener Mann auf, der als einziger genau weiß, was er will. Für Robert Hough-wout Jackson, Richter am amerikanischen Supreme Court, ehemaliger, wenn auch nur kurzfristiger Justizminister unter Roosevelt und nun Sonderbeauftragter des neuen Präsidenten Truman, gibt es nur die eine, die einzige Möglichkeit: den großen, internationalen Prozeß. Die Welt soll das vorgelegte Beweismaterial prüfen und sich ein Urteil bilden. Am 26. Juni 1945 beginnt, mit Jackson als beherrschender Figur, die Londoner Konferenz,

Die Konferenz beschließt die Abhaltung des internationalen Prozesses und gibt ihm ein verbindliches Statut. Jackson wird als „Vater des NüftSÖetger Prozesses““'in“ die Geschichte eingehen. Er Wird an diesem Prozeß als amerikanischer Hauptankläger teilnehmen. Aber ein Versuch Jacksons, nicht nur der Vater, sondern auch die Graue Eminenz des Prozesses zu sein, wird eine Woche vor der ersten öffentlichen Verhandlung vom gewählten Vorsitzenden des Tribunals, Lordrichter Lawrence, zunichte gemacht. Die Anklage gegen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wird zum Anlaß für die klärende Auseinandersetzung. Krupp ist 76 Jahre alt, unheilbar verkalkt und kaum mehr ansprechbar. Jackson beantragt Verhandlung in Abwesenheit. Lawrence fragt Jackson: „Finden Sie, daß der Gerechtigkeit gedient ist, wenn ein Mann verurteilt wird, der sich wegen Krankheit nicht ordnungsgemäß verteidigen kann?“

Jackson erfaßt die Situation und antwortet zähneknirschend mit einem Nein. Nun will Lawrence vom britischen Hauptankläger wissen, ob Krupp nach britischem Recht ebenso wie nach amerikanischem verhandlungsunfähig wäre, was wiederum nur mit einem Ja beantwortet werden kann. Mit der letzten Frage, ob das englische Recht dem Interesse der Gerechtigkeit diene, scheidet der alte Krupp aus der Liste der Nürnberger Hauptangeklagten endgültig aus. Ein Fall, für den sich die Ankläger der vier Mächte die Ersatzlösung haben einfallen lassen, einfach Krupps Sohn Alfried auf die Anklagebank zu setzen. Lawrence schweigt indigniert, das französische Tribunalmitglied Donnedieu de Fabres herrscht seinen Landsmann Dubost, der diesen Plan vorgebracht hat, an: „Finden Sie wirklich, daß Sie es dem Gerichtshof zumuten können, einfach einen Namen in der Anklageschrift gegen einen anderen auszutauschen?“

Die Weltöffentlichkeit ahnt nichts von diesen Auseinandersetzungen hinter den Kulissen. Eine Woche später ist der große Saal des Nürnberger Justizpalastes, den die Bomben zufällig stehengelassen haben, überfüllt. Der Nürnberger Prozeß hat begonnen.

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