7047924-1990_41_12.jpg
Digital In Arbeit

Endlosgeschichte

Werbung
Werbung
Werbung

Ich halte eine Reformdiskussion schon deshalb für sinnvoll und not- wendig, weil es zum Wesen eines demokratischen Systems gehört, dynamische Prozesse zü ermögli- chen und zu fördern. Daß das „reale" Bild unserer heutigen Demokratie sich von dem des Jah- res 1920 erheblich unterscheidet, ist wohl offenkundig. Hier müßte ein grundsätzlicher Nachdenkpro- zeß ansetzen.

Der Bundespräsident hat vor wenigen Tagen gemeint, „die Ver- fassung verdiene als Grundordnung des Staates Respekt, genaue Be- achtung und sorgsamen Umgang sowie Zurückhaltung bei der Än- derung aus tagespolitischen Moti- ven" . Ein berechtigter, aber nichts- destoweniger frommer Wunsch in Anbetracht des „realen" Umgangs mit der Verfassung. Daß mit der Verfassung nicht immer sorgsam verfahren wird und tagespolitische Interessen die Verfassungspolitik beeinflussen, hat viele Ursachen. Zu allererst ist hier der oft zitierte Mangel eines ausgeprägten Verfas- sungsbewußtseins zu nennen.

Eine Verfassung ist das funda- mentale und höchste Gesetz einer Nation. Daß sie ein höherrangiges Prinzip einer Rechtsgemeinschaft ist, beschäftigt in Österreich im Regelfall Juristen. Sicher war das wechselhafte Schicksal der Ersten Republik mit eine Ursache, daß in Österreich das nie entstanden ist, was man Verfassungspatriotismus nennen kann. Es ist auch schwierig, das Besondere des Verfas- sungsrechtes deutlich zu machen, wenn die Entstehungsbedingungen den Unterschied zwischen Verfas- sungsrecht und einfachen Bundes- gesetzen nur schwer erkennen las- sen.

Das Erfordernis der Zweidrittel- Mehrheit im Nationalrat bedeutet zwar einen Zwang zum Konsens zwischen den großen Fraktionen, beschränkt das Verfassungsrecht jedoch nicht auf das Grundsätzli- che. Dutzende Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen belegen diese Feststellung.

Solange die beiden Großparteien im Nationalrat eine Zweidrittel- Mehrheit besitzen, bestimmen sie nicht nur die Inhalte von Verfas- sungsregelungen, sondern auch das, was als Verfassungsrecht beschlos- sen wird. Der Ornat einer Verfas- sungsbestimmung garantiert für jede der beiden Fraktionen den Bestand einer Regelung.

Angesichts dieser Wirklichkeit besteht die begreifliche Tendenz, Verfassungsreformen im Reich der Träume anzusiedeln. Offenbar hat unsere Zeit den Mut und die Phan- tasie für große Reformen verloren. Die seit Jahrzehnten diskutierte Grundrechtsreform hat sich in Etappen aufge- löst. Die Bundesstaats- reform findet in be- scheidenen und kleinen Schritten statt. Ja nicht einmal eine ohnehin schmalbrüstig konzi- pierte Wahlrechtsre- form konnte bis dato politisch umgesetzt werden.

Sind daher die aus Anlaß des abgelaufenen Jubiläums erhobenen Rufe nach einer Reform Rituale, die schon zum 60jährigen Bestand zu hören waren und deren Neuauflage im Jahr 2.000 erfolgen wird, wenn es gilt, den 80. Geburts- tag der österreichischen Verfas- sungsordnung zu feiern?

Ein leichter Hoffnungsschimmer erscheint am Horizont, daß es an- ders kommen könnte. Er heißt EG- Beitritt. Auch den Politikern wird offensichtlich immer mehr bewußt, daß dieser Schritt nicht nur die ökonomische Landschaft Öster- reichs verändern wird, sondern auch Strukturreformen im politi- schen System zur Folge haben muß. Nicht nur der Föderalismus wird dabei Thema sein - darüber wird mittlerweile schon gründlich dis- kutiert -.sondern etwa auch die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung. Eine Verwaltungs- reform ohne Verfassungsreform bleibt ein höchst unvollkommenes Unternehmen. Mit der Dienstpo- stendiskussion allein wird es uns nicht gelingen, unsere Verwaltung modern und europareif zu machen.

Die Beispiele ließen sich fortset- zen. Die Abgrenzung der Inhalte einer solchen Reform ist nicht das schwierigste Problem. Hier sind Politik und Experten zu einem engen und fruchtbringenden Dia- log aufgerufen. Wesentlich ist die Ingangsetzung eines solchen Dis- kurses auf politischer Ebene. Re- gierung und Parlament im Bund und in den Ländern müssen die ersten Programme entwickeln und für den Beginn einer Diskussion sorgen, die über die Fachzirkeln hinausgeht.

Ziel soll keineswegs eine revo- lutionäre Neugestaltung der Ver- fassung sein, sondern eine neue Charta des Gemeinwesens, die Spielregeln, aber auch Glau- bensbekenntnisse dort enthält, wo die zentralen Fragen der Zukunft dies erfordern. Eine bloße Wieder- verlautbarung der Bun- desverfassung, wie sie in diesen Tagen wieder vorgeschlagen wur- de, wäre ein vernünftiger Schritt einer Verfassungstextbereinigung und -harmonisierung, würde aber dem geschilderten Ziel nicht nahe- kommen.

Der deutsche Staatsrechtslehrer Smend hat das Wesen einer Verfas- sung einmal als „Anregung und Schranke" beschrieben. Als Schranke im Sinne einer Machtbe- grenzung und Machtkontrolle bewährt sich das österreichische Verfassungswerk des Jahres 1920 im wesentlichen noch. Als Element der Anregung ist sie eher steril.

Keine Verfassungsordnung be- sitzt Ewigkeitswert, andererseits soll sie einen normativen Rahmen für stabile und berechenbare Ent- wicklungen abgeben. Wenn man diese „Wesensschau" einer Konsti- tution akzeptiert, wäre es an der Zeit, noch im 20. Jahrhundert die Grundordnung eines modernen Staates für das 21. Jahrhundert zu schaffen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung