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Engel unterwegs

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Es reißt nicht ab.

Doch er konnte es im Vorbeigehen erledigen, vielleicht im Vorbeifliegen, wie wir uns das so als Kinder vorstellen, mit einem Flügelschlag gewissermaßen.

Dem Kommerzialrat Schlemmer versetzte er einen kleinen Stich in die Brust, daß er an ein lateinisches Wort dachte, Angina pectoris, einhielt, und zum Flohmarkt hinüberging, für tausend Schilling einen alten Regenschirm kaufte, diesen aber gar nicht mitnahm.

Der Engel kicherte. Schlemmer fühlte sich besser und die drei Mädchen, die den Flohmarkt betreuten, glaubten an ein Wunder. So erledigt das eben ein Engel.

Die Leute glauben das natürlich nicht und nennen den Engel Zufall. Dafür nennen sie die silberhaarigen Puppen in den Auslagen Engel und nicht Zufall. Denn diese Welt ist nämlich vernünftig, sehr vernünftig und sehr logisch.

Dem Lastwagenfahrer Ferdl die zerknüllte Pappendeckeltasse vom Würstlstand, die er auf den Boden der Lenkerkabine geworfen hatte, gerade dann unters Gaspedal schieben, wenn der Rudi von links mit dem Radi um die Kurve kommt, damit das gerade noch gutgeht, das ist auch so ein Zufall. Engel arbeiten mit allen Tricks.

Sogar ein Taschendieb kann zur rechten Zeit kommen. In der Diskothek Mandolina amore angelt sich der Langfinger den Tausender, mit dem sich der bläßliche Gymnasiast Fridolin heute endlich den Joint-Vorrat für die Feiertage besorgt hätte.

„Ohne Kies kan Stoff!" sagt der Dealer. Fridolin ist so verstört, daß er nächsten Tag doch zur Chorprobe geht, singt auf einmal so gut, daß er für eine Solostelle unersetzlich wird und daher vor lauter Proben gar keine Zeit mehr für die Kiffer hat. Ein purer Zufall natürlich, Pech im rechten Augenblick, Routinefall für einen durchschnittlichen Engel.

Nein, man muß das nicht bemerken, es ist ja leider die Ausnahme. Vielleicht geschehen auf dieser verdammten Erde deswegen im'mer mehr Bosheiten und Unglücksfälle, weil wir für die Ausnahmen blind geworden sind. Wenn die Engel Menschen wären, hätten sie es ohnehin längst aufgegeben.

Dann steht unser Engel vor der Beratungsstelle für Familienangelegenheiten.

Es riecht nach Fürsorge.

„Es hat keinen Sinn", sagt Maria, eine Mittzwanzigerin, fingert nach einer Zigarette, steht auf, streift ihr Haar zurück. „Adoptieren? Wer denn? Ausländer vielleicht?"

Die Beamtin versucht ruhig zu bleiben. „Bitte, dann?" entgegnet sie, beginnt zu schreiben.

Unser durchschnittlicher Engel konzentriert sich, lädt sich auf mit Geist wie ein Kondensator mit Stromspannung.

Einfache Methoden zuerst. Den Kugelschreiber versagen lassen. Die Lade mit den anderen Kugelschreibern zusperren. Zeit gewinnen. Der Beamtin einen Hustenanfall schicken. Das Telefon läuten lassen...

Und dann zu Maria, hinein in diese verschlossene Miene, hinein in diese Lippen, hinein in Zorn, Kälte und Enttäuschung, hinauf in dieses Hirn, zurückzwingen auf den Sessel. Bilder herbei, schlagende Herzen von Embryonen, Kinderaugen, Kinderumarmungen.

Es gelingt nicht. „Nein!"

Die Beamtin findet einen Bleistift, das Telefon schweigt, der Hustenanfall ist vorbei. Die Adresse. Der Lufthauch beim öffnen der Türe trägt unseren Engel mit auf den Gang. Das ist kein Routinefall, das ist ein Kampf. Unser Engel nimmt ihn auf.

Unser Engel betet, rast durch die Gleichzeitigkeit vergangener und künftiger Jahrtausende, rast durch raumlose Räume, stößt durch aufgehobene Dimensionen, bebt vor den Zentren ewiger göttlicher Schöpfungsmacht, stürzt zurück auf die Schultern dieser Mittzwanzigerin, rüttelt an den, Pforten ihres freien Willens, mobilisiert alle Gefühle der Mütterlichkeit.

Wir Zufallsgläubigen werden das nie begreifen.

Es wäre so schön, so friedlich, so weihnachtlich hell und heiter, und es entspräche auch dem Humor dieser Geschichte, wenn ich nun erzählte, wie unser Engel siegt. Wie er den Zettel mit der tödlichen Adresse verschwinden läßt. Wie er Mutterschaft weckt aus dem Reich der Vernichtung. Ein Engel hat tausend Möglichkeiten.

Und in dem Lächeln eines Kindes, in dem noch immer der Glanz des Sterns von Bethlehem ist, vollendet sich das schwere Glück einer Mutter, die sich für das Leben entschieden hat.

Wir bemerken die Ausnahmen viel zu selten. Warum also sollte es nicht gesehen?

Es gab auch Häftlinge, die noch vor der Gaskammer von Auschwitz gerettet wurden. Es gab Soldaten, denen eine kurze Wendung des Kopfes oder ein Notizbuch in der Brusttasche als Kugelfang das Leben gerettet hat.

Und es gab und gibt Millionen Tote.

Es gibt das unbegreifliche Opfer der unschuldigen Kinder, die das Schwert des Herodes erreichte, als der Sohn Gottes rechtzeitig geflohen war.

Denn wir glauben als Christen an die Barmherzigkeit Gottes, die ein Sieg des Guten ist, aber nicht unbedingt an den Sieg des Guten in der Zeit, die uns davon trennt.

Die folgenden Sätze sind wahr. Sie sind wörtlich dem „Ungarischen Pressedienst" entnommen:

Damit Weihnachten, Silvester undNeujahr trotz ihrer in diesem Jahr nicht gerade glücklichen Wochentagslage (Freitag, Samstag, Sonntag) dennoch zu jeweils „runden" Festen werden, gelten in Ungarn folgende „Umleitun-gen :

Der 11. Dezember, an sich ein arbeitsfreier Samstag, tauscht mit dem 24. Dezember, einem Freitag, seinen Platz, d. h.: der 11. Dezember wird zu einem Freitag — und zwar mit allen seinen Konsequenzen —, während der 24. allgemein arbeitsfrei ist; die Geschäfte bleiben bis mittags geöffnet. Freitag, der 31. Dezember, also Silvester, wechselt mit dem 2. Jänner 1983, einem Sonntag, die' Stellung d. h.: der 31. Dezember wird zu einem Sonntag — die Geschäfte sind also an diesem Tag geschlossen —, der 2. Jänner (alias Freitag) wird zum normalen Arbeitstag.

(Aus ,JBudapester Rundschau")

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