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Englands „österreichisches Klima“

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Die politische Szene in Großbritannien ist in Bewegung geraten; die beinähe schon „abgeschriebenen“ Liberalen befinden sich — erstmals seit dem Ende des Ersten Weltkrieges — in einem echten Au^wärtstrend und verunsichern nicht nur die beide großen Parteien, sondern auch die Öffentlichkeit, die das traditionelle Zweiparteiensystem in Gefahr sieht. Und spätestens bis zum Sommer 1975 müssen in Großbritannien Parlamentswahlen stattfinden.

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Die politische Szene in Großbritannien ist in Bewegung geraten; die beinähe schon „abgeschriebenen“ Liberalen befinden sich — erstmals seit dem Ende des Ersten Weltkrieges — in einem echten Au^wärtstrend und verunsichern nicht nur die beide großen Parteien, sondern auch die Öffentlichkeit, die das traditionelle Zweiparteiensystem in Gefahr sieht. Und spätestens bis zum Sommer 1975 müssen in Großbritannien Parlamentswahlen stattfinden.

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Den genauen Zeitpunkt dieser Wahlen kann der Premierminister nach eigenem Gutdünken festsetzen, allgemein wird jedoch mit Wahlen zwischen Herbst 1974 und Frühjahr 1975 gerechnet. Es steht den beiden großen Parteien — Conserva-tive Party und Labour Party — nur noch ein Jahr zur Verfügung, und der Vorwahlkampf hat bereits mit einiger Deutlichkeit eingesetzt. Was derzeit beide Großparteien in Unruhe versetzt, sind die sensationellen Erfolge der Liberalen („Whigs“) bei den letzten Nachwahlen (da in England — zum Unterschied von Österreich — nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt wird, gibt es pro Wahlkreis jeweils nur einen Kandidaten einer Partei; bei Freiwerden des Parlamentssitzes rückt daher nicht der nächste Mann auf der Liste nach, sondern es muß eine Nachwahl durchgeführt werden). Von den letzten acht Nachwahlen konnten die Liberalen vier für sich entscheiden, und dies in Wahlkreisen, die traditionell einer der beiden Großparteien zugeordnet wurden, wie im Juli dieses Jahres in Ripon und auf der Isle of Ely, die beide als konservative Hochburgen galten.

Am 8. November werden wieder Nachwahlen in zwei traditionell konservativen Sprengein stattfinden: in Berunek-tipoTi-Tiueed (prozentuelle Stimmen Verteilung von 1970: Konservative 50,6, Labour 27,4, Liberale 21,9 Prozent) und Hove. Die Wetten bezüglich Berwicks stehen 5:2 für die Liberalen.

Die konservative Regierung unter Edward Heath hat zwar in vielen Bereichen Erhebliches geleistet, vor allem auf dem Gebiet der Sozialpolitik (wo man es am wenigsten erwartet hatte), hat aber anderseits beim Bekämpfen der Inflation kaum Erfolge erzielt. Hinzu kommt noch, daß die Konservativen — aus Gründen der Opportunität — bei einigen ihrer Grundsätze Abstriche machten,

was zahlreiche Stammwähler verärgern mußte.

Anderseits konnte sich die Labour Party bis heute nicht als Alternative profilieren. Schuld daran sind in erster Linie die Unglaubwürdig-keit des Parteiführers Wilson („Das einzig Konsequente an ihm ist seine Inkonsequenz“) sowie permanente Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Flügeln der Partei.

In solch einer innenpolitischen Situation bieten sich die Liberalen als Stimmenfänger an. Ähnlich wie in österrreich hat zwar die „Dritte Kraft“ in England kein Programm zu bieten, sie beschränkt sich vielmehr auf die Sammlung von Stimmen Unzufriedener. (Daß diese Politik auf die Dauer ins Auge gehen muß, dürfte der 21. Oktober hinlänglich bewiesen haben.) Ein englischer Journalist charakterisiert demnach auch die Liberalen als „eine äußerst heterogene Gruppe von Einzelgängern ohne Parteiapparat und ohne kohärentes politisches Programm'-.

Dennoch kann man es den Liberalen nicht verdenken, daß sie sich derzeit in einem Zustand der Euphorie befinden. Wie zahlreiche andere liberale Parteien wurden auch die englischen „Liberols“ in der Zeit des Ersten Weltkriegs aufgerieben, wobei der Löwenanteil der Stimmen zu den erstarkenden sozialistischen Parteien wanderte. Die Erfolgsbilanz der Liberalen in England nach dem Zweiten Weltkrieg war auch dementsprechend mager, ihre Mandatsstärke schwankte zwischen sechs und zwölf Mandaten von insgesamt 625. Zweifellos lag dies auch am britischen Wahlsystem, das kleine Parteien bewußt benachteiligt, um jeweils entscheidungsfähige Mehrheiten zu schaffen; dies ist auch der Grund dafür, daß es Regierungskoalitionen in England nicht gibt. Es entspricht britischem Fair play, daß eine Partei die Mehrheit erringen und die Ohance haben soll, während

einer Legislaturperiode aUetnverant-wortlich zu regieren.

Geraide diese Tradition ist aber derzeit in Gefahr. Sollten die Liberalen ihre Erfolgsserie fortsetzen können, dann könnten sie nach den nächsten Parlamentswahlen das Zünglein an der Waage bilden. Obwohl sich die Liberalen und ihr prominenter Parteichef Jeremy Thorpe peinlich jeder Andeutung enthalten, welche der beiden Parteien sie im Falle einer Minderheitsregierung (gegen gewisse Zugeständnisse) unterstützen würden, so steht dennoch derzeit fest, daß eine gewisse Präferenz in Richtung Labour Party zu verzeichnen ist. Immerhin wird Jeremy Thorpe — Sohn eines konservativen Politikers und verheiratet mit einer Österreicherin — dem linken Flügel der Liberalen zugezählt und verspricht sich eher von der Labour Party die Erfüllung des sehnlichsten Wunsches: einer Änderung des Wahlrechtes in Richtung auf eine Besserstellung der kleineren Parteien.

Die Engländer gehen also innenpolitisch auf ein „österreichisches Klima“ zu, die Parallelen sind nicht zu übersehen; war es doch das Versprechen Kreiskys, das Wahlrecht zugunsten der Freiheitlichen (die allerdings alles andere als Liberale sind) zu ändern, das diese in der Zeit der Minderheitsregierung bei der Stange hielt.

Von der Entscheidung am 8. November wird die innenpolitische Situation des Vereinigten Königreichs entscheidend beeinflußt werden, wenn auch von einer Weichenstellung wahrscheinlich nicht gesprochen werden kann, denn trotz unbestreitbarer Erfolge müssen sich die Liberalen zwei Umstände vor Augen halten:

• Nachwahlen sind nicht Gesamtparlamentswahlen. Der Wähler benützt Nachwahlen gerne zur Erteilung von Denkzetteln, während er, wenn es „ums Ganze geht“, wieder zu seiner Partei zurückkehrt.

• Das englische Wahlsystem ist wesentlich auf die Persönlichkeit der Kandidaten zugeschnitten; die Liberalen, die in den letzten Jahren in zahlreichen Wahlkreisen wegen Aussichtslosigkeit auf eine Kandidatur verzichtet haben, wollen bei den nächsten Wahlen in 400 bis 500 Wahlkreisen (von mehr als 600) kandidieren, wobei jedoch die Frage nach präsentablen Kandidaten sowie nach einem offiziellen Parteiapparat auch offen ist.

Die „Sunday Times“ meinen dazu, daß der Engländer zwar über Währungskrisen Bescheid wisse, aber nur lückenhafte Vorstellungen von einem Dreiparteiensystem habe. Aus all diesen Gründen scheint eine Rückkehr zu den beiden Großparteien bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich zu sein (ein Prozeß, der auch in Österreich zu verfolgen ist: die FPÖ kann zwar gelegentlich bei Regionalwahlen ihren Stimmenanteil vergrößern, muß jedoch bei Nationalratswahlen ständig Einbußen hinnehmen).

Die Liberalen jedenfalls haben sich ehrgeizige Ziele gesetzt: sie wollen nicht nur zur politisch relevanten „Dritten Kraft“ avancieren, sie wollen Regierungsverantwortung alf Großpartei tragen. Ob Jeremy Thorpe jedoch in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit noch in diese großen Schuhe hineinwachsen wird, ist eher zweifelhaft.

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