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Entdeckung der Kirche

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Kardinal König hat die Begegnung Gorbatschows mit dem Papst als Schicksals-stunde bezeichnet. Der folgende FURCHE-Exklusiv-beitrag bewertet das Treffen aus sowjetischer Sicht

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Kardinal König hat die Begegnung Gorbatschows mit dem Papst als Schicksals-stunde bezeichnet. Der folgende FURCHE-Exklusiv-beitrag bewertet das Treffen aus sowjetischer Sicht

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Der Vatikan-Besuch von Michail Gorbatschow und sein Treffen mit Papst Johannes Paul II. sind ein Teil der globalen Wandlungen, die heute die internationale Situation kennzeichnen.

Die Bereitschaft unseres Landes, die internationalen Beziehungen zu entideologisieren und einen Dialog mit verschiedenen politischen Kräften der heutigen Welt zu führen, wirkt sich unvermeidlich auch auf unsere Kontakte zu den kirchlichen Kreisen aus. Unter den Kräften, zu denen die UdSSR Beziehungen sowohl auf staatlicher als auch gesellschaftlicher Ebene entwickelt, gewinnen sie zunehmend an Bedeutung.

Von großer Relevanz ist auch die Tatsache, daß unsere Vorstellungen von allgemeinmenschlichen Werten und humanistischen Traditionen in mancher Hinsicht an die ethische Lehre und moralischen Postulate der Kirche erinnern:

• In der Vergangenheit lehnten wir den sogenannten abstrakten Humanismus und Pazifismus als fremde ideologische Theorien und Konzepte ab, die dementsprechend ideologisch zu bekämpfen waren.

• Im Zeitalter der Perestrojka und Erneuerung unserer Gesellschaft rücken wir allgemeinmenschliche Werte und den Menschen als Persönlichkeit in den Vordergrund.

• Solche moralischen Normen wie Barmherzigkeit und Ablehnung der Gewalt, Toleranz und freies Denken werden zunehmend zu Imperativen der sowjetischen Gesellschaft.

Ich bin Geschichtswissenschaftler und interessiere mich besonders für die historische Evolution dieser moralischen Prinzipien. Wir veröffentlichen jetzt verstärkt auch Werke religiöser Denker. Wir entdecken für uns erneut den heiligen Augustinus und Thomas von Aquin, den christlichen Sozialismus von Berdjajew und die Werke von Florenski.Wir haben in unserem Institut für allgemeine Geschichte

Kreuz und Sichel eine Gruppe für Geschichte des Pazifismus gebildet, die sich mit gewaltfreien historischen Alternativen befaßt.

Der Gedanke des Gewaltverzichts gewinnt in der sowjetischen Politik zunehmend an Bedeutung.Die Veränderungen in der internationalen Situation berührten auch den Vatikan. Die Leiter der katholischen Kirche nehmen zu vielen Weltproblemen eine realistische Haltung ein und unterstützen das neue Denken in den internationalen Beziehungen.

Es wäre natürlich falsch, die bestehenden Differenzen in der Verhaltensweise in Ost und West zu vielen Fragen zu übersehen. Man bemüht sich jedoch um gemeinsame Entscheidungen und gegenseitig akzeptable Kompromisse, um einen Krieg zu verhindern und einen stabilen Frieden und Sicherheit im Vorfeld des 21. Jahrhunderts zu etablieren. (FURCHE/Lurie) Michaü Gorbatschow besuchte den Vatikan zu einer Zeit, in der die sowjetische Gesellschaft und der Sozialismus grundlegend erneuert werden:

• Die neue Einstellung gilt auch für die Beziehungen zwischen dem Sowjetstaat und der Kirche.

• Dutzende neue Kirchen sind geweiht worden.

• Vertreter verschiedener Religionen wurden zu Volksdeputierten der UdSSR gewählt und sind in vielen gesellschaftlichen Organisationen vertreten.

• Sie sprechen häufig im Fernsehen und im Rundfunk, ihre Beiträge werden in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht.

• Die obersten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche trafen im Vorfeld der 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Rußlands mit Gorbatschow zusammen, wobei viele Fragen gelöst wurden.

• Heute wird ein neues Gesetz über die Gewissensfreiheit erarbeitet, das die Glaubenstoleranz und den Schutz aller Gläubigen rechtlich und staatlich sichern wird.

Die neue Verhaltensweise der sowjetischen Führung berührte alle religiösen Gemeinschaften - Orthodoxe, Katholiken, Moslems und Juden. Dieser Prozeß hat sich im Rahmen der Perestrojka entwickelt, hat zwangsläufig auch im Vatikan Anklang gefunden.Die katholische Kirche hat begeistert die Veränderungen in Polen, Ungarn und anderen sozialistischen Staaten aufgenommen und verbindet sie mit den Prozessen, die zunächst in der Sowjetunion angelaufen sind.Der Besuch des sowjetischen Staatschefs im Vatikan fand in dieser günstigen Situation statt und wird sicherlich zur Durchsetzung des neuen Denkens in den internationalen Beziehungen beitragen.

Der Autor ist Direktor des Instituts für allgemeine Geschichte der UdSSR an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR

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