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Entlassen — oder Tiefschlag des Schicksals

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Noch in den ersten Monaten des vergangenen Jahres eilte Österreichs Wirtschaft von einem Beschäftigtenrekord zum anderen, während im benachbarten Ausland die Zahl der Arbeitslosen immer neue Gipfel erreichte. Rund 17 Millionen Menschen waren 1975 im OECD-Bereich (Europa, USA, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland) arbeitslos; 7,7 Millionen davon in Nord-, Süd- und Westeuropa, 8,1 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten und Kanada. In der großen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre wurden insgesamt rund 25 Millionen Arbeitslose — etwa um die Hälfte mehr als 1975 — erfaßt. Die Sozialgesetze waren vor mehr als dreißig Jahren bedeutend schlechter. Heute aber ist der Arbeitslose für die Sozialgesetzgebung kein Objekt der Armenfürsorge, sondern ein ehrenwerter Bürger auf Arbeitsuche.

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Noch in den ersten Monaten des vergangenen Jahres eilte Österreichs Wirtschaft von einem Beschäftigtenrekord zum anderen, während im benachbarten Ausland die Zahl der Arbeitslosen immer neue Gipfel erreichte. Rund 17 Millionen Menschen waren 1975 im OECD-Bereich (Europa, USA, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland) arbeitslos; 7,7 Millionen davon in Nord-, Süd- und Westeuropa, 8,1 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten und Kanada. In der großen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre wurden insgesamt rund 25 Millionen Arbeitslose — etwa um die Hälfte mehr als 1975 — erfaßt. Die Sozialgesetze waren vor mehr als dreißig Jahren bedeutend schlechter. Heute aber ist der Arbeitslose für die Sozialgesetzgebung kein Objekt der Armenfürsorge, sondern ein ehrenwerter Bürger auf Arbeitsuche.

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Doch für die öffentliche Meinung, auch für die Arbeitslosen selbst, hat sich an der Beurteilung von arbeits-und erwerbsfähigen Menschen mit totaler Freizeit nichts geändert. Das Pariser Institut „Cofremca“ hat mehr als 100 Arbeitslose in Frankreich, wo bei jedem, der aus wirtschaftlichen Gründen seine Arbeit verliert, für ein ganzes Jahr die volle Lohnfortzahlung vom Staat getragen wird, befragt. „Diese sechstausend Seiten individueller Arbeitslosen-Beichte sind eine endlose Folge des Ausdrucks von Demütigung, Ohnmacht, Unverständnis“, kommentiert „Le Nouvel Econo-miste“ diese Untersuchung. So sieht die Mehrheit der Arbeitslosen sich selbst: Arbeitslose, „das sind in erster Linie Leute, die man gerne losgeworden ist. Unbrauchbare, Untaugliche, Unzuverlässige, ewig Kranke, Überzählige. Leute, die sich dafür bezahlen lassen, daß sie nichts taugen, nichts tun, nichts leisten. Der faule Bodensatz der Belegschaft.“

In Österreich ist im letzten Halbjahr der Beschäftigtenstand um rund 30.000 Personen gesunken. Sozialminister Häuser läßt keine Gelegenheit verstreichen, ohne zu versichern, daß 1976 die Zahl der Arbeitslosen unter 100.000 bleiben werde. 1975 lag der Durchschnitt der Arbeitslosen bei 55.400; die Arbeitslosenrate bei 2,1 Prozent. Im Februar 1976 wird mit einer Arbeitslosenzahl von annähernd 120.000 gerechnet. Dann, so hofft man im Sozialministerium, werde mit Frühjahrsbeginn die Arbeitslosenzahl auf etwa 80.000 fallen, die Arbeitslosenrate wieder die 3-Prozent-Marke unterschreiten. Hinter dieser Prognose steckt sehr viel Optimismus;ein Optimismus, der in allen politischen Lagern und auf beiden Seiten der Sozialpartner herrscht. ÖVP-Bundesobmann Josef Taus sieht im Recht auf Arbeit einen „moralischen Anspruch“; Bundeskammerpräsident Sallinger bekennt sich „zu einer seriösen Vollbeschäftigungspolitik. Wir wollen, daß stabile wirtschaftliche Verhältnisse mit stabileren Preisen und Vollbeschäftigung gesichert werden. Wir lehnen Arbeitslosigkeit als Mittel der Inflationsbekämpfung ab. Diese Zielsetzung haben wir seit jeher vertreten, und wir lassen uns von gegenteiligen Auffassungen, die uns da und dort wider besseres Wissen unterstellt werden, nicht beirren.“

Für die Zukunft sehen die Experten des Internationalen Arbeitsamtes (ILO) in Genf und der OECD noch größere Schwierigkeiten voraus. In den OECD-Staaten wird die Zahl der Arbeitsfähigen in den nächsten Jahren um 17 Prozent steigen. Das sind rund 70 Millionen Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen. Die Aussichten, daß sie alle einen Arbeitsplatz finden werden, sind schlecht, weil in diesem Zeitraum auch mit einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zu rechnen ist.

Auch in Österreich werden in den nächsten zehn Jahren die Arbeitsplätze langsamer zunehmen als in der Vergangenheit. In diesem Zeitraum sollen dem Arbeitsmarkt mehr als 350.000 oder rund 13 Prozent zusätzliche unselbständige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Doktor Felix Butschek, Referent des Wirtschaftsforschungsinstituts, stellt denn auch die bange Frage, „ob ein Zuwachs in dieser Größenordnung überhaupt zur Gänze wird ausgeschöpft werden können“. Das wäre nur dann der Fall, wenn die Wirtschaft in den nächsten zehn Jahren jährlich zwischen 4 und 5 Prozent real wachsen würde. Das wird in diesem Jahr sicher nicht und im nächsten Jahr kaum der Fall sein.

Allen sozialgesetzlichen Absicherungen zum Trotz, dürften auch in Österreich die öffentliche Meinung und die Arbeitslosen selbst ein negatives Urteil über die aus der Arbeitswelt Ausgestoßenen äußern. „Der Mensch“, meint der weltberühmte Psychologe Prof. Viktor Frankl, der schon vor mehr als vierzig Jahren an einer soziologischen Studie über die Arbeitslosen von Marienthal mitgearbeitet hat, „lebt nicht von der Arbeitslosenunterstützung allein“. Er braucht zum Leben Selbständigkeit und die findet er in seiner Arbeit.

Wohl ist der Arbeitslose endlich Herr seiner totalen Freizeit. Aber er hat es verlernt, mit dieser Zeit etwas anzufangen. Große Leere tut sich auf. Wer will auch schon den ganzen Tag durch Bibliotheken, Museen und Straßen streifen? Das Leben in der Stadt verhindert so vieles, was das flache Land dem Arbeitslosen noch schenkt. Hier kostet alles Geld, vom Bus bis zum Kino. Und weder im Wald noch im Garten bieten sich Beschäftigungsmöglichkeiten an. Bei der erwähnten Arbeitslosenuntersuchung im niederösterreichischen Marienthal wurde registriert, daß die gesellschaftlichen Aktivitäten der Arbeitslosen immer mehr verkümmerten. Das Interesse an kultureller und sportlicher Betätigung erlahmte, selbst die Sonntagsspaziergänge und die gemütlichen Stammtischrunden entfielen. Allgemein machte sich damals in Marienthal eine resignative Haltung breit. Die Arbeitslosen bewegten sich langsam und müde über die Straßen, standen herum und zeigten kein Interesse an persönlicher Weiterbildung und am Fortkommen ihrer Kinder.

Prof. Müller-Limmeroth, Leiter des Instituts für Arbeitspsychologie an der Technischen Universität München, hat die Beziehungen zwischen dem täglichen Arbeitsrhythmus und den Gehirnfunktionen untersucht und dabei einen „Streß besonderer Art“ festgestellt; einen Streß, dessen Auswirkungen — rein medizinisch gesehen — vom herkömmlichen Arbeitsstreß kaum unterscheidbar sind. Eine Aufhebung des üblichen Ablaufs von Aktivitäts- und Ruhezeiten, wie die Arbeitslosigkeit sie verursacht, führt zu erheblichen Störungen im Zentralnervensystem. Durchblutungsbeschwerden, Magengeschwüre, Labilität des Kreislaufs mit Kollapsneigung, Verdauungsprobleme, Gastritis und Schlaflosigkeit sind die Folgen des Entlassungsschocks und der plötzlichen Umstellung aufs Nichtstun; Störungen, die während der ersten Monate dieses ungewöhnlichen Zustands sogar lebensgefährlich sein können. Experten der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin wiesen aber auch darauf hin, daß sich Existenzangst, Unterbeschäftigung und berufliche Ungewißheit — also die Probleme der Kurzarbeiter — auf das körperliche Befinden auswirken können. So registrierten Ärzte und Arbeitsämter in der Bundesrepublik Deutschland im letzten Jahr eine stark steigende Zahl kranker Arbeitsloser.

Arbeitslose, das fand die französische Arbeitslosenuntersuchung heraus, neigen dazu, die Arbeit überzubewerten und gleichzeitig auch die Konsumgesellschaft. Jugendliche kritisieren zwar den Wettlauf um Geld und Arbeit, doch reichen ihre Wünsche kaum weiter als bis zum guten Essen, zum Motorrad, zur Stereoanlage, zum guten Leben.

Arbeitslosigkeit wird als individueller Tiefschlag des Schicksals empfunden. Als Ungerechtigkeit, die man nicht den Unternehmern, auch nicht dem Wirtschaftssystem anlastet. Arbeitslosigkeit gilt nach Jahrzehnten der Arbeitsplatzsicherheit, des fortschreitenden Wohlstands, des steigenden Lebensstandards als unfaßbares Ereignis, als Panne der Wirtschaftsmaschinerie. In dieser Situation ist für die meisten Arbeitslosen die Familie kein Zufluchtsort in der Not. Im Gegenteil. Man empfindet sie als grausamen Spiegel des Versagens. Unter Arbeitslosen ist die Scheidungsrate höher als unter Beschäftigten; nicht Ehefrau und Kinder tragen iaran Schuld, sondern der Arbeitslose selbst, der glaubt, nun auch in den eigenen vier Wänden nicht mehr vollgenommen zu werden.

Dieses Verhalten, zu dem freilich nur sehr starke Persönlichkeiten fähig sind, wird auch von den einschlägig befaßten Fachleuten empfohlen. Arbeitslose, so heißt es, müssen, um ihre körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, eine Art Gegenstreß verordnet bekommen. Wer unter den krankhaften Folgen eines erzwungenen Nichtstuns, verbunden mit psychischem Streß, leidet, der sollte unbedingt Sport betreiben.

Heute glaubt man im übrigen nur in den wenigsten Staaten Nord- und Westeuropas, daß das Arbeitslosenheer die politische Radikalität begünstige. Die französische Untersuchung zeigt sehr deutlich, daß die Arbeitslosen keine Aufrührer, keine Rebellen sind. Alle Versuche der marxistischen Gruppen, die Masse der Arbeitslosen in Frankreich zu politisieren, sind bisher gescheitert. Man glaubt einfach nicht, daß der Marxismus eine Methode sei, um die mit der Arbeitslosigkeit zusammenhängenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu beseitigen.

Diese Aussage gilt auch für Österreich. Wo Arbeitslosigkeit bisher verhältnismäßig konzentriert auftrat, etwa im steirischen Köflach, verfestigte sich bei den Nationalratswahlen das gewohnte Wählerverhalten nur noch mehr. Die Opposition links von der Regierungspartei, mußte dort ihre größten Stimmenverluste feststellen. Nur die Jugendkriminalität nimmt zu; hier gerät die Leistungsbereitschaft in falsche Kanäle. Ein Problem, das in den nächsten Jahren auch in Österreich große Lösungsschwierigkeiten bereiten dürfte.

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