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Enttäuschte Hoffnungen

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Die hochgespannten Erwartungen einer Annäherung an Ideale der Gleichheit in den 60er Jahren haben sich nicht erfüllt. Gerade deshalb müssen heute die Anstrengungen noch verstärkt werden.

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Die hochgespannten Erwartungen einer Annäherung an Ideale der Gleichheit in den 60er Jahren haben sich nicht erfüllt. Gerade deshalb müssen heute die Anstrengungen noch verstärkt werden.

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Die Ungleichheitsproblematik hat sich in den entwickelten Industriestaaten im letzten Jahrhundert entscheidend gewandelt; von einer durch unvereinbare Interessen gekennzeichneten Klassengesellschaft über eine auf der Anerkennung der gleichen politischen Rechte beruhende Realisierung einer annähernden formalen Demokratie bis zum Aufbau eines Wohlfahrtsstaates, der angesichts eines Systems, das prinzipiell materielle Ungleichheit aufrechterhält und regeneriert, gewisse Re-distributionsleistungen zum Zwecke der Minderung der Ungleichheit erbringt bzw. die Garantie sozialer Mindeststandards leistet.

Nicht nur durch den Wirtschaftsprozeß, sondern auch durch staatliche Eingriffe werden neue Ungleichheiten geschaffen, die ihre Wurzel in den charakteri-

stischen Vorgangsweisen politischer Problembewältigung haben.

Der vorherrschende politische Aktionsstil ist der eines „präventiven Krisenmanagements": Jene Probleme werden vorrangig verarbeitet, bei denen die schwerwiegendsten Gefährdungen abzusehen seien.

Angesichts dieser Prioritätensetzung liegen jene Bedürfnisartikulationen an der Peripherie des staatlichen Aktionsbereichs, die ihre Interessen nicht massiv zu Gehör bringen oder keine riskanten Folgewirkungen ihrer Ignorierung androhen können. Staatliche Unterstützungen werden den lautstarken und wichtigen Organisationen zuteil und erzeugen somit neue Ungleichheiten.

Andere Enttäuschungen bezüglich der in den sechziger Jahren hochgespannten Erwartungen einer Annäherung an Ideale der

Gleichheit — oder zumindest der Chancengleichheit, der auch Liberale zustimmen können — kommen hinzu.

Es gibt immer einige Gruppen, die benachteiligt sind, auch wenn Einzelerfolge zu verzeichnen sind. So wie es zwangsläufig in jeder Gesellschaft, die ihre Armutsgrenzen nach historisch variablen Standards bestimmt, bestimmte Einkommensgruppen geben wird, die unter diesem Limit liegen.

Dies ist ein Wettlauf, der nicht gewonnen werden kann. Von dem Versuch, minimale soziale Standards anzuheben, sollte man sich allerdings dadurch genau so wenig abhalten lassen wie von dem Vorhaben, Privilegien am oberen Ende der Einkommenshierarchie zu reduzieren.

Auch die erwarteten Erfolge bildungspolitischer Maßnahmen haben sich nicht im erhofften Ausmaß eingestellt. In der Familie situierte Ungleichheiten können durch kompensierende Programme nur unzulänglich gemildert werden.

Einen gravierenden Rückschlag erleiden die Hoffnungen auf mehr Gleichheit auch durch Überlegungen, die Fred Hirsch (1980) in seinem Buch über „Soziale Grenzen des Wachstums" angestellt hat.

Er unterscheidet materielle Güter, die Wachstums- und verteilungsfähig sind. Dies gilt aber

nicht für den einsamen Seestrand, das Häuschen am Stadtrand im Grünen, für verantwortliche Positionen in der Regierung oder in einem Großunternehmen.

Der Prozeß der materiellen Gleichheit stößt an die Grenzen der „positionellen Ökonomie".

Das Bildungssystem kann die Ungleichheit der Positionen nicht ändern, es ist nur ein Zuteilungsmechanismus. Mehr Bildung für alle hat dann zur Konsequenz, daß einfach der Weg zu den gewünschten Zielen länger wird. Wenn alle Matura machen, braucht man für bessere Positionen ein Hochschulstudium; wenn alle studieren, eine Post-gradua-te-Ausbildung; wenn diese allen vermittelt wird, ein Zeugnis mit entsprechenden Noten...

Auch diese Tatsachen können nicht, wie dies so beliebt ist, in der Weise gedeutet werden, daß die Ausweitung der Bildungschancen fehlgeschlagen, die Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte verfehlt gewesen und eine grundlegende Revision anzuraten sei.

Allein die Illusion ist zerbrochen, man könne über das Bildungssystem mehr (oder allen) Jugendlichen einen sozialen Aufstieg sichern und vielleicht sogar „die Gesellschaft" verändern.

Im Zusammenhang mit der Gleichheitsproblematik zeigt sich allerdings einerseits, daß die Erwartungen, die man in den refor-

mistisch engagierten, aber eigentlich technokratisch ausgerichteten 60er Jahren hegte, weit überzogen waren.

Andererseits scheint es so, daß der wirtschaftliche Rückschlag der 70er Jahre ideologisch dazu benutzt wird, die Bemühungen um mehr Gleichheit zu diskreditieren. Unverblümt wird unter Bezugnahme auf Marktmodelle wieder darüber gesprochen, man müsse die Löhne stärker differenzieren, um Ausbildungsanreize zu setzen oder die „Verdienstnivel-lierung" zwischen Männern und Frauen rückgängig machen.

Mit dem schwindenden Elan der Wohlstandsperiode scheinen auch die Bemühungen um soziale Gleichheit wieder schwieriger geworden zu sein. Bei stagnierenden oder sogar sinkenden Löhnen ist der Spielraum für Umverteilung noch geringer als bei beachtlichen jährlichen Zuwächsen.

Natürlich wird die Gleichheitsproblematik in anderer Weise aktuell. Auch die Diskussion um die Arbeitszeitverkürzung kann etwa unter diesem Aspekt gesehen werden: Denn vorausgesetzt, das Mittel ist zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geeignet (was auch davon abhängt, wer die Kosten trägt), so ist das Argument, daß die Lasten einer Wirtschaftskrise nicht einige Arbeitslose, sondern alle Arbeitnehmer solidarisch tragen sollen, durchaus als gleich-

heitsorientiertes Gegenstück zu dem Marktprinzip, demzufolge sich retten solle, wer dies vermag, zu verstehen.

Aber auch in bezug auf die „alte" Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung bleibt genug zu tun. Auch die neuerdings beliebte Kontroverse um die Sättigung der Bedürfnisse kann sich um das Verteilungsproblem nicht herumschwindeln.

Natürlich trifft das Argument der Bedürfnissättigung auf jene Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten und andere wohldotierte Einkommensgruppen zu, die in den staatlich geförderten Wohnungen die subventionierten Dritt- und Viertwohnungen als Kapitalanlage erwerben. Und auf jene Mittelstandsbürger, die sich alle paar Jahre das neueste neorustikale Mobilar ins Wohnzimmer stellen. Und auf die ganze politische Postenwirtschaft.

Aber sie trifft natürlich nicht zu auf den überbelasteten Nebenerwerbsbauern, den frühpensionierten Schichtarbeiter, den Mindestrentner, den Arbeitslosen aus einem „alten Industriegebiet" usw. Ihnen Bescheidenheit zu predigen, die vielen anderen wohl anstehen würde, ist reinste Scheinheiligkeit.

Dr. Manfred Prisching arbeitet als Assistent am Institut für Soziologie der Universität Graz. Der Beitrag ist ein Auszug aus „Macht und Kontrolle*4, erschienen in der Schriftenreihe des Bildungshauses Retzhof/ .Stank.

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