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Entzweites Königreich

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Mit der Thronrede, der durch Königin Elisabeth verkündeten politischen Grundsatzerklärung der britischen Regierung für die neue Sitzungsperiode des britischen Parlaments, ist es klar geworden, daß das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland dieses Attribut wenigstens dem Namen nach noch auf ein weiteres Jahr behalten wird. Die neben der Wirtschaftskrise immer mehr zum Thema Nummer Eins werdende Frage, ob und vor allem in welchem Ausmaß Schottland und Wales erhöhte Selbstbestimmungsrechte erhalten sollen, ist durch die Thronrede und durch anschließende Erklärungen von Premierminister Wilson im Unterhaus auf wenigstens ein Jahr vertagt worden, um „ausreichende Gelegenheit zur öffentlichen Diskussion innerhalb und außerhalb des Parlaments“ zu ermöglichen.

Das angekündigte Weißbuch der Regierung über die Dezentralisierungspläne für Schottland und Wales wird zwar schon demnächst erscheinen; dürfte aber kaum besondere Überraschungen enthalten, ganz abgesehen davon, daß die diesbezüg-lfchen Vorschläge im Laufe des nächsten Jahres und darüber hinaus zweifellos noch vielen Veränderungen, Zusätzen und Einschränkungen unterzogen werden, bevor sie, frühestens im Jahre 1977, Gesetzeskraft erlangen. Und da es sich hier schließlich um Fragen von weitreichendster Bedeutung handelt, um eine Existenzfrage für Großbritannien im wörtlichsten Sinne, scheinen in diesem parlamentarischen Prozeß Vorsicht und Gründlichkeit auch wirklich mehr als berechtigt zu sein.

Premierminister Wilson hat wiederholt unmißverständlich erklärt, daß seine Regierung nicht die Absicht habe, als diejenige in die Geschichte einzugehen, unter der es zu einer „Auflösung“ des Vereinigten Königreiches gekommen ist. Sein Weißbuch, so sagte Wilson, werde sich mit Dezentralisierung, nicht aber mit Separatismus befassen, mit der Schaffung gewählter, gesetzgebender Institutionen in Schottland und Wales, nicht aber mit der Bildung neuer, unabhängiger Staaten auf der britischen Insel. Welche' Machtbefugnisse allerdings diesen Institutionen verliehen werden sollen, das wird Gegenstand der bevorstehenden und zweifellos sehr stürmischen Debatten werden.

Die individuelle Existenz von Schottland und Wales ist in der britischen Verfassung schon seit vielen Jahren durch die Schaffung eines schottischen und eines walisischen Ministeriums anerkannt worden, die stets einem schottischen, beziehungsweise einem walisischen Minister unterstellt waren. Aber die Möglichkeit einer echten Dezentralisierung, einer Abgabe von Machtyollkommenheiten aus dem Londoner Parlament an Körperschaften in Edinburgh und Cardiff, diese Entwicklung ist relativ neu, und sie wurde ausgelöst in erster Linie durch den Impetus und die Wahlerfolge der nationalistischen Parteien von Schottland und Wales. Nachdem eine schon von der vorigen Labourregierung eingesetzte königliche Untersuchungskommission die Schaffung regionaler Parlamente in diesen beiden Provinzen empfohlen hatte, haben sich alle drei Großparteien im Unterhaus diesem Konzept verschrieben — am vorsichtigsten die Konservativen, am weitestgehenden die Liberalen, ohne daß allerdings die genauen Rechte und Pflichten dieser Institutionen bisher im einzelnen definiert worden wären.

Die Labourregierung steht vor einem schwierigen politischen Problem. Ihre einzige Hoffnung für eine fortgesetzte Majorität im Unterhaus, für ihren Fortbestand also und für künftige Wahlsiege, liegt in der Vormachtstellung der Labourpartei in Schottland und Wales, die dort die große Mehrheit aller Abgeordneten stellt. Werden in diesen Provinzen jedoch wirklich Parlamente mit echten Machtvollkommenheiten innenpolitischer Art geschaffen, dann bestehen starke Argumente dafür, die Anzahl schottischer und walisischer Abgeordneter im Parlament von Westminster wesentlich zu verringern, ganz so, wie das mit Nordirland geschah, als diese Provinz im Jahre 1922 ihre eigene, gewählte Nationalversammlung erhielt, Tritt die jetzige Labourregierung hingegen zu ablehnend gegenüber einer echten Dezentralisierung auf, zeigt sie sich als zu knauserig mit den Rechten für die Regionalparlamente, dann läuft sie Gefahr, ihre durch die dortigen nationalistischen Parteien ohnehin schon angeschlagenes Suprematie in Schottland und Wales weiter zu schwächen. Dies wiederum führt in direkter Linie zu einem echten Dilemma für die Tories; die Konservativen sind als Wahrer der Tradition und der Einheit Großbritanniens stets am zurückhaltendsten mit ihren Dezentralisierungsplänen gewesen — aber der Gedanke an all die potentiellen Stimmenverluste der Labourpartei durch Regionalparlamente in Schottland und Wales läßt die Mannen um Margaret Thatcher nicht ruhen, und ihre Sympathien für eine Dezentralisierung sind in letzter Zeit deutlich stärker geworden.

Die schottischen und walisischen Nationalisten natürlich ergehen sich in wahlwirksamen Zornausbrüchen über die jüngste Regierungserklärung und bezichtigen den Premierminister des „zynischen Verrates“ an seinen eigenen Wahlversprechen, weil er die Dezentralisierungsentscheidungen jetzt auf die lange Bank geschoben hat. Aber diese Parteien scheinen selbst bei ihren eigenen Landsleuten nicht ganz das Echo zu finden, auf das sie hoffen. Eine unlängst durchgeführte Meinungsumfrage ergab, daß in Wales 50 Prozent derWähle'r für den Status Quo sind und nur zehn Prozent für eine völlige Unabhängigkeit; in Schottland wird ein solcher radikaler Schritt nur von 20 Prozent gewünscht, 20 sind für den Status Quo und 60 wollen eine regionale Körperschaft mit größeren oder kleineren Machtvollkommenheiten. In Schottland sind natürlich alle derartigen Erwägungen stark von der Frage des Nordseeöls beeinflußt; der Gedanke, dieses riesige Energiepotential zur Gänze für sich in Anspruch - zu nehmen, hat dem schottischen Patriotismus zusätzliche Nahrung verliehen. Aber es ist ebenso natürlich, daß keine britische Regierung jemals die Kontrolle über diese Ölvorkommen aufgeben wird, für deren Erschließung und Entwicklung das gesanfte Vereinigte Königreich so riesige Investitionen vorgenommen hat.

Es wird also wieder einmal heftig gerüttelt an den Grundfesten Großbritanniens — ganz so, als ob das Land zur Zeit nicht konkrete Sorgen im Überfluß hätte. Aber das alte, glückliche Merkmal britischer Politik, “.nämlich der Durchbruch von „Common sense“, von gesundem Menschenverstand — wenn auch erst in zwölfter Stunde —, wird hoffentlich'auch hier wieder das Ärgste verhindert!. 1

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