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Episches Theater mit Musik

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Zu der Zeit, als Kurt Weill an der Partitur seiner weltberühmten „Dreigroschenoper" abeitete, schrieb er: „Seit mir schon mit 19 Jahren klar geworden war, daß meip spezifisches Betätigungsfeld das Theater sein würde, habe Ich unausgesetzt versucht, die Formprobleme des musikalischen Theaters auf meine Welse zu lösen, und im Lauf der Jahre bin ich diesem Problem von allen Seiten zu Leibe gerückt."

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Zu der Zeit, als Kurt Weill an der Partitur seiner weltberühmten „Dreigroschenoper" abeitete, schrieb er: „Seit mir schon mit 19 Jahren klar geworden war, daß meip spezifisches Betätigungsfeld das Theater sein würde, habe Ich unausgesetzt versucht, die Formprobleme des musikalischen Theaters auf meine Welse zu lösen, und im Lauf der Jahre bin ich diesem Problem von allen Seiten zu Leibe gerückt."

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Das geschah zunächst mit drei frühen expressionistischen Einaktern auf Texte von Georg Kaiser und Ivan Göll, hierauf mit dem Songspiel „Mahagonny" und mit der aus diesem entstandenen großen, abendfüllenden Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" in den Jahren 1927 bis 1930, dazwischen schrieb Weill die Partitur zur „Dreigroschenoper" und in den Jahren darnach die Schuloper „Der Jasager" und das Lehrstück „Der Lindberghflug" — auch sie nach Texten von Bert Brecht. Es entstand die reizende Musik zu „Happy End" und zum „Berliner Requiem", schließlich verband sich Kurt Weill mit dem Büimenbildner Caspar Neher, der ihm den Text für die abendfüllende Oper „Die Bürgschaft" schrieb. Das letzte Werk, das Brecht und Weill gemeinsam geschaffen haben, wurde bereits in der Emigration uraufgeführt, und zwar im August des Jahres 1933 in Paris durch die von Balanchine geleiteten „Ballets 1933". Es* hieß „Die sieben Todsünden" und war ein Ballett mit Gesang.

Hier möchte der Chronist der Weilischen Werke am liebsten schließen, denn was Weill drüben in den USA gesciirieben hat, zeigt kaum noch Spuren seiner unverwechselbaren, originellen Handschrift. Zwar gelang es ihm auch dort, mit berühmten Autoren in Verbindung zu treten und Erfolg zu haben, aber was nun entstand, 1st größtenteils Musical- und Kinomusik. Am schmerzlichsten wirkt das Überwuchern jener Sentimentalität, die Weill früher so treffend zu karikieren verstand. Das bezieht sich leider auch auf Weills letztes vollendetes Werk „Lost in the Stars", das unter dem deutschen Titel „Der weite Weg" figuriert und auch im Rundfunk aufgeführt wurde. — In der Zelt zwischen 1935 und 1950, dem Jahr seines frühen Todes, hat Weill in Amerika neun Partituren zu abendfüllenden Bühnenwerken geschrieben, daneben zahlreiche Filmmusiken und Gelegenheitsarbeiten.

Doch zurück zum .guten alten Weill der Berliner zwanziger und der beginnenden dreißiger Jalire. Mit den Formproblemen der Oper hatte sich gleichzeitig auch Bert Bredit und vor ihm Ferruccio Busoni befaßt. Dieser schrieb über den Aufführungsstil: „So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf — soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblick einbüßen —, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische Genuß zur menschlichen Teilnahme absinken. Der Dar. steller spiele, er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen. Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis wird uns das Publikum selbst bereiten. Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten ein starkes menschliches Erlebnis von der Bühne deshalb fordern, weil ein solches ihrer Durchschnittsexistenz fehlt, und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht verlangt… Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß." Das schrieb Busoni bereits 1913. In den Anmerkungen zur Drel-groschenoper erklärte Brecht 17 Jahre später: „Indem er singt, vollzieht der Schauspieler einen Funktionswechsel. Nichts ist abscheulicher, als wenn der Schauspieler sich den Anschein gibt, als merke er nicht, daß er eben den Boden der nüchternen Rede verlassen hat und bereits singe. Keinesfalls bedeutet das gehobene Reden eine Steigerung des nüchternen Redens und das Singen eine solche des gehobenen Redens. Keinesfalls also stellt sich, wo Worte infolge des Übermaßes der Gefühle fehlen, der Gesang ein. Der Schauspieler muß nicht nur singen, sondern auch einen Singenden darstellen." Dies ist nur ein Teilaspekt des epischen Theaters, das nach der Auffassung von Brecht und Weill geradezu eine Antithese zur dramatischen Form des Theaters und der konventionellen Oper darstellt. Auf die Musik bezogen, stellen sich diese Gegensätze folgendermaßen dar: In der Oper wird die Musik serviert, im epischen Musiktheater vermittelt sie; dort steigert die Musik den Text, hier legt sie ihn aus; dort illustriert sie, hier nimmt sie Stellung. Trotzdem ist „Mahagonny", auf das sich diese Antithesen beziehen, zu-

gleich auch so kulinarisch, wie es sich für eine Oper schickt Aber es stellt das Kulinarische auch zur Diskussion. Es sitzt sozusagen noch prächtig auf dem alten Ast, aber es sägt ihn schon ein wenig an.

Diese Theorien über das neue epische Musiktheater wurden von den beiden Autoren gründlich fundiert und ausführlich dargelegt. Sie haben in vielen Spezialstudien, die dem epischen Theater gewidmet worden sind, auch in Dissertationen, ihren Niederschlag gefunden. Aber Brecht und Weill waren viel zu talentierte, kluge und bühnenerfahrene Künstler, um ihre Theorien blind und taub auch in die Praxis umzusetzen. Und Lotte Lenya, Kurt Weills Frau und Meisterinterpretin, erinnert daran, wieviel Spaß alle Beteiligten in jenen Wochen und Monaten gehabt haben, als aus dem Songspiel „Mahagonny" die große abendfüllende Oper entstanden ist, die als das bedeutendste und reifste Produkt der Zusammenarbeit zwischen Bert Brecht und Kurt WeUl angesehen werden kann. Der Inhalt der „Dreigroschenoper" ist allgemein bekannt (vergleiche auch die Studie in Nr. 4 der „Furche"). „Mahagonny" wurde in Wien nur um die Mitte der dreißiger Jahre im Raimundtheater gegeben und nach 1945 hier nicht mehr aufgeführt. — Von Konstablem verfolgt, kommt die Witwe Begbick mit ihren Kompagnons an einen Strand, an dem sie einige fette Fische zu fangen hofft, das heißt: sie eröffnet ein Vergnügungsgeschäft. Sie gründet Mahagonny, die Netzestadt, bald siedeln sich die ersten Haifische, eine Gruppe jvmger Mädchen unter Jennys Führung, hier an, die mit dem Alabama-Song einziehen. Und dann folgt das Publikum, „Unzufriedene aus den großen Städten". Im Vordergrund der Handlung stehen Jimmy Mahonney und seine Freunde, die in den Wäldern von Alaska in grausamer Kälte als Holzfäller gearbeitet haben und sich nun, mit er-sjjarlem Geld reichlich versehen, ein gutes Leben machen wollen: ohne Arbeit, rauchend, trinkend, boxend und liebend. Doch es kommt alles anders, sie sind unzufrieden, denn es gibt auch hier Verbote — und Konflikte. Einer nach dem anderen kommt um, dieses ganze Mahagonny scheint nicht viel zu taugen und geht am Schluß in Flammen auf, während lange Züge von Unzufriedenen mit Spruchtafeln über die Bühne ziehen. — Gezeigt werden, wie in einem Leiirstück, die einzelnen Phasen dieses Fiaskos, freilich auch die kurzen Stunden des Glücks. Und so zynisch sich der Text und so flott sich die Musik gibt — es 1st ein Schleier von Trauer und Melancholie über dem ganzen Stück und der Musik — was nicht nur von dem häuflg verwendeten MoU kommt.

Unmittelbar nach dem Sensationserfolg der ,J5reigroschenoper" forderte Ernst Josef Aufricht Brecht und Weill auf, auch ihre nächste gemeinsame Arbeit für ihn, das heißt das Theater am Schiffbauerdamm, zu schreiben. Mit seiner Assistentin Elisabeth Hauptmann erfand Brecht eine Geschichte, deren Helden ein Heilsarmeemädchen und ein Gangsterboß sind. Die Autoren dachten dabei an Carola Neher und Heinrich George. Zwei Akte waren bald fertig, und Kurt Weill hat dafür seine schönsten Songs geschrieben. Aljer Brecht konnte das Stück nicht fertig machen und hat später das aus der amerikanischen Unterhalümgslitera-tur stammende Stück verlexignet: er stritt die Autorschaft ab, obwohl Lilian Holiday, Leunant der HeUs-armee, eine Vorstudie zur „Heiligen Johanna der Schlachthöfe" ist. Trotzdem wurde das Stück unter dem Namen Dorothy Lane aufgeführt und erwies seine Lebensfähigkeit vor einigen Jahren im Theater an der Wien und zuletzt in einer Reihe von gutbesuchten Aufführungen im Berliner Theater „Die Tribüne", wo es während der Berliner Festwochen 1970 Premiere hatte.

„Die sieben Todsünden der Kleinbürger" ist das letzte von Brecht und Weill gemeinsam geschaffene Werk, ein Ballett, das 1933 in Paris, mit Lotte Lenya und Tilly Losch in den Hauptrollen, von Balanchines lets 1933" uraufgeführt wurde. Es schildert die Reise der beiden Schwestern Anna I und Anna II durch sieben Städte des amerikanischen Kontinents bis zum erreichten Ziel, einem eigenen Häuschen in Louisiana am Ufer des Mississippistromes. Hier finden wir, zum letztenmal, alle Qualitäten und typischen Formen Weills: die imitierte Leierkastenmelodie, den Song, das kecke Marsch-

lied und einen zarten Lyrismus, der das Gefühl unmittelbar anspricht. „Die sieben Todsünden" wurden ebenso wie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" nicht etwa in Wien, sondern bisher nur in Klagenfurt in Eigenproduktion gegeben. Wir haben darüber ausführlich berichtet, zuletzt in Nr. 10 der „Furche".

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