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Er schuf drei Meisterwerke...

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Vor einigen Wochen gab Vittorio de Sica — vor 30 Jahren, ja, noch vor zwanzig eine Weltberühmtheit — ein Interview, das in Amerika erschien, dort aber kaum Aufsehen erregte. Aber einige wenige erinnern sich noch, wer er war. 70 Jahre jetzt. Die einen sagen: schon? Und die anderen: erst? Er hat unglaublich viele Filme gemacht und in noch viel mehr Filmen gespielt. Mehr als die meisten anderen Filmschaffenden. Freilich, einige dieser Filme waren so außerordentlich, daß die Fans — und zu denen gehörten die ernsthaftesten Kritiker — sich mehr erwarteten. Mehr im qualitativen als im quantitativen Sinne. Sein Soll erfüllte er, aber eben nur im quantitativen Sinn.

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Vor einigen Wochen gab Vittorio de Sica — vor 30 Jahren, ja, noch vor zwanzig eine Weltberühmtheit — ein Interview, das in Amerika erschien, dort aber kaum Aufsehen erregte. Aber einige wenige erinnern sich noch, wer er war. 70 Jahre jetzt. Die einen sagen: schon? Und die anderen: erst? Er hat unglaublich viele Filme gemacht und in noch viel mehr Filmen gespielt. Mehr als die meisten anderen Filmschaffenden. Freilich, einige dieser Filme waren so außerordentlich, daß die Fans — und zu denen gehörten die ernsthaftesten Kritiker — sich mehr erwarteten. Mehr im qualitativen als im quantitativen Sinne. Sein Soll erfüllte er, aber eben nur im quantitativen Sinn.

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Ursprünglich sollte und wollte er eigentlich Kaufmann werden, schloß sich aber schon als rund Zwanzigjähriger einer reisenden Theatergruppe an. Unter anderem kam er schließlich als Schauspieler an ein festes Theater. Er spielte kleinste und kleine Rollen.

Seinen Durchbruch verdankte er, wie er später oft erzählte, der Tatsache, daß in einem damals sehr beliebten und oft gespielten Stück, „Spiel im Schloß“ von Franz Molnär, der Hauptdarsteller erkrankte. Er mußte einspringen. Als Bonvivant, wie man das damals, das Jahr war 1927, noch nannte. Als liebenswürdiger, charmanter, wenn auch moralisch nicht immer einwandfreier Herr, der sich vorzüglich anzog, geistreiche Konversation zu machen pflegte. Und als Bonvivant setzte er sich durch. Das war in diesen Jahren einfach, denn noch wurde Oscar Wilde regelmäßig gespielt, noch schrieb Noel Coward jährlich ein neues Stück, auch Curt Goetz. Die Salonkomödie war Trumpf. Und mit ihr, wo immer er auftrat, Vittorio de Sica. Man nannte ihn damals den Sascha Guitry Italiens. Er spielte prinzipiell nur heitere Rollen. Er war immer ein Mitglied der höheren Klasse. Er wollte gefallen — und er gefiel.

Natürlich holte ihn der Film. Hier setzte er eigentlich nur fort, was er auf der Bühne begonnen hatte. Er spielte heitere Rollen, gepflegte Herren aus der besseren Gesellschaft, die immer etwas Witziges zu sagen hatten, und er machte das vorzüglich. Die italienische Filmwelt taufte ihn den Maurice Chevalier Italiens. Hollywood streckte ein-oder zweimal die Fühler nach ihm aus, aber es kam nie zu einer vertraglichen Bindung. Vielleicht, weil de Sica zu schlecht englisch sprach.

Und ganz plötzlich, das war mitten im Krieg, und möglicherweise eine Folge des Krieges, interessierten ihn diese heiteren Rollen nicht mehr, interessierte es ihn überhaupt nicht mehr, zu spielen. Er wollte Regie führen. Und er machte das vorzüglich. Es waren sehr hübsche Filme, die er inszenierte, geistreich, witzig, gelegentlich auch ernst. Sie waren Kassenerfolge. Er verdiente viel Geld.

Aber nicht deswegen hatte er zur Regie übergewechselt, wie er immer wieder den Produzenten erklärte. Er wollte nur ernste Filme machen. Er wollte Filme machen, die Probleme behandelten. Es lag ihm nichts daran, bekannte Stücke zu verfilmen, mit bekannten Stars zu arbeiten. Er wollte mit Schauspielern arbeiten, die ganz unbekannt waren, oder sogar mit Laien. Er wollte vor allem mit Kindern arbeiten.

Und so entstanden kurz nach dem Krieg drei Filme, die um die Welt gehen sollten. Es waren „Die Schuhputzer“, „Die Fahrraddiebe“ und „Das Wunder von Mailand“. — Es waren Filme, die sich mit den Einzelschicksalen kleiner und kleinster Menschen beschäftigten, die eigentlich kein besonderes Interesse erregten, aber eben dasjenige von de Sica und durch ihn des breiten Publikums.

Sie waren realistisch, sie gehörten ohne Zweifel zu den Werken des neuen Realismus — und ließen sich doch nicht recht als realistische Filme katalogisieren. Sie waren weniger grausam als die Filme von Roberto Rosselini, de Sica zeigte weniger mit dem Zeigefinger auf die sozialen Mißstände, auf das Unglück der Armen und Ärmsten, darauf, wie sie übervorteilt wurden. Wenn sie die Zuschauer nachdenklich stimmten — und das taten sie — dann weniger, weil sie kämpferisch waren, als vielmehr dadurch, daß die gezeigten Schicksale uns rührten.

Der Erfolg war außerordentlich. „Die Fahrraddiebe“ bekam sogar einen „Oscar“ in Hollywood. Natürlich liefen sie nicht in den großen

Kinos, sicher nicht in Amerika, nicht in England, sondern in den Studios, wo sich die Filmfeinschmecker trafen.

Ich lernte de Sica kennen, als er gerade am Drehbuch „Das Wunder von Mailand“ arbeitete. Ein ausgezeichnetes Drehbuch, alle diese Drehbücher waren ausgezeichnet, aber er holte noch ein letztes heraus, er hatte immer neue Ideen, und keine von ihnen war aufgesetzt, alle gehörten dazu, als wären sie schon ursprünglich mit dem Drehbuch entstanden. Und er arbeitete weiter, auch noch im Filmatelier, unaufhörlich wurde etwas verändert, bis zum letzten Tag überraschte de Sica seine Schauspieler und wohl auch sich selbst.

Die beiden ersten dieser neuartigen Filme waren mit bescheidenen Mitteln gemacht, „Das Wunder von Mailand“ allerdings mit sehr vielen Schauspielern, mit zahllosen Schauplätzen in und um Mailand und kostete viel Geld. Und dieser Film, künstlerisch ein enormer Erfolg, spielte die Kosten nicht ein. Später warf die Filmbranche de Sica gelegentlich vor, er habe so viel Geld verloren, weil seine Filme zu „aufwendig“ seien. Aber dies war gar nicht der Fall. Gemessen an dem, was sonst produziert wurde, in Rom, in Hollywood, in Paris, ja bald auch in Berlin, München und Hamburg, kosteten seine Filme gar nicht so viel. Das hatte ihm die Industrie auch nicht übelgenommen. Was sie ihm aber übelnahm, war, daß er viele Jahre lang nicht an die Stoffe heranwollte, die man für gängig hielt, und darauf beharrte, Filme zu machen, die er für notwendig hielt.

Seltsamerweise blieb das Publikum, das ursprünglich so entzückt von ihm war, ihm nicht treu. Auch das hatte mit der Zeit zu tun. Die Menschen wollten sich im Kino amüsieren. Sie wollten nicht über kleine Jungen nachdenken, die, um zu existieren, stehlen mußten. Sie wollten elegante Gesellschaft sehen, Cocktail-Partys, schöne Frauen in herrlichen Kleidern oder auch ohne sie. Waren diese Filme oder Stücke nicht einmal die Stärke de Sicas gewesen?

Er gab dem Trend nach. Er machte Filme, die auch andere hätten machen können. Viele waren reizend, manche vielleicht zu belanglos. Er spielte wieder. Die Rolle, die er sein Leben lang gespielt hatte, den gescheiten, hustigen, etwas überlegenen Bonvivant. — Und er hatte wieder Erfolg. Und er verdiente wieder viel Geld.

Wie kommt es, daß er heute, mit 70 Jahren, kein Geld hat, daß er in einem Interview darüber klagte, man gebe ihm keine Arbeit mehr, er sei arm, er müsse demnächst als Statist auftreten, ja, er fühle sich schon als Statist? — Der Grund ist allgemein unbekannt. De Sica ist in seiner Freizeit — ein Spieler. Sowie er Geld in der Tasche hat, fährt er irgendwohin und man sieht ihn dann Tag und Nacht am Roulette sitzen. Manchmal gewinnt er, aber wie das nun einmal bei Spielern ist: er kann nicht aufhören, bis er auch den Gewinn wieder verspielt hat. Und natürlich, mit 70 Jahren kann man nicht mehr so betörend charmant sein, wie er es einmal war. Und es gibt kaum noch Rollen. Und das Publikum, das er einmal hatte, ist auch alt geworden, geht nicht mehr in die Kinos, die jungen Leute haben andere Idole.

Das ist im wesentlichen seine Privatsache. Nicht seine Privatsache ist, daß seine alten Filme nicht mehr gezeigt werden. Die sind in des Wortes wahrster Bedeutung Klassiker. An ihnen könnten sich noch viele Generationen erfreuen. — Sollte der 70. Geburtstag nicht eine günstige Gelegenheit sein, sie aus der Vergessenheit wieder herauszuholen?

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