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Er war Chauffeur

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Bernhard F. erkannte früh, daß einzig und allein die Fähigkeit des Wartens den Menschen vom Tier unterscheidet. Selbst die Katze wartet nicht wirklich vor dem Mauseloch: sie lauert. Eine Katze steckt sich keine Pfeife dabei an, liest keine Zeitung, sieht nicht auf die Uhr, geht nicht auf und ab, und das nicht nur, weil sie keine Pfeife, Uhr und Zeitung hat. Sie könnte ja auf und ab gehen. Warten bedeutet, daß man die Stunden oder Jahre totschlägt, bis das eintritt, worauf man gewartet hat, und Bernhard F., der sich durch sein Menschentum verpflichtet fühlte, wurde daher Chauffeur.

Der Mann, den Bernhard F. chauffierte, wartete selten und im Notfall nur unwillig. Er besaß sein großes Automobil nicht von Geburt her, sondern hatte es sauer verdient, auch sein nächstes und übernächstes, und durfte es darum von der Steuer abschreiben. Sogar Bernhard F. wurde von der Steuer abgeschrieben. Am Morgen stürzte dieser Mann aus seiner Villa die Freitreppe hinab in das Automobil, nannte Bernhard F. das erste Ziel des Tages, öffnete darauf sein Portefeuille und erledigte, während das Ziel näherrückte, die Morgenpost. Bernhard F. war es ziemlich gleichgültig, wohin er zu fahren hatte, ihm war nur das Warten wichtig. Er fuhr sicher und schnell, weil er möglichst bald warten wollte.

Bernhard F. war auf das Warten eingerichtet. Viele Chauffeure lesen Zeitung, gehen auf und ab oder sitzen in einem benachbarten Cafe, wo sie nur deshalb nicht mit den Fingern auf der Marmorplatte trommeln, weil sie zu der resignierten Einsicht gelangt sind, daß die Zeit, die man nicht totschlägt, auch von selbst stirbt, wenn man ihr nur Zeit läßt. Nicht so Bernhard F.! Kaum war sein Dienstgeber aus dem Blickfeld verschwunden, zog Bernhard F. unter seinem üppig gepolsterten und belederten Platz einen Papiersack hervor und aus dem Papiersack ein Buch. Ein veritables Buch! Manchmal freilich noch ein Wurstbrot oder eine Banane, aber das hing von der jeweiligen Stunde ab. Also ein Buch und das auf jeden Fall, wobei zu vermerken wäre, daß sich in dem Papiersack regelmäßig nicht nur ein Buch befand, sondern deren drei, abgestimmt auf die Gelegenheiten, die sich ergeben konnten: Aphorismen und Short Stories für kurzes Warten, Essays und Novellen für mittleres Warten, Romane für langes Warten.

Wer sich darüber allzusehr wundert, möge bedenken, daß Bernhard F. den Chauffeurberuf, wie erwähnt, nicht nur Geldes willen ergriffen hatte. Er wollte warten, weil er wußte, daß das Warten die eigentliche Aufgabe des Menschen ist. Hat er sich zu ihr bekannt, dann darf er nach Lust und Neigung wählen, in welcher Weise er warten will, aber zuoberst muß immer das Bekenntnis zum Warten stehen, so daß ein Pedant an Bernhard F.'s Stelle nicht hätte sagen dürfen: Ich lese, sondern: Ich warte lesend. Er wartete erstens und las zweitens. Anspruchsvolle Bücher las er, weil ihn die Natur darauf eingerichtet hatte.

Der Mann, den Bernhard F. chauffierte, wußte natürlich um den sonderbaren Zeitvertreib seines Chauffeurs, weil er nicht übersehen konnte, daß Bernhard F. jedesmal ein Buch zuklappte, wenn sich der Mann samt Aktentasche wieder in den Fond des Automobils schwang und das nächste Ziel nannte.

„Sie lesen?" hatte er gefragt und seine Mißbilligung nicht verhohlen.

„Ja, ich lese", hatte Bernhard F. geantwortet.

Eine oder zwei Wochen später fragte der Mann, was das denn für Bücher seien. „Romane und so", antwortete Bernhard F.

„So etwas kann sich unsereiner nicht leisten", schnaubte der Mann, der eine Sekunde lang verstand, daß er sein vieles Geld so sauer verdiente, damit Bernhard F. nach Belieben lesen konnte. Da aber Bernhard F. ein guter Chauffeur war und sowieso von der Steuer abgeschrieben wurde, blieb es dabei. Der Mann kümmerte sich nicht mehr um diese Bücher und erfuhr auch nichts davon, als Bernhard F. zu studieren begann.

Schuld daran war der Leihbibliothekar, der Bernhard F. mit Lesestoff versorgte. Anfangs hatten die Bestände seines bescheidenen Ladens den Ansprüchen dieses besten Kunden noch genügt, denn der Bibliothekar pflegte volksbildnerische Ambitionen und hatte sich nach und nach bei Versteigerungen und aus Nachlässen die Werke der Klassiker angeschafft und noch manches andere, das die alltägliche Klientel nicht betraf. Als Bernhard F. diesen Vorrat aufgebraucht hatte, griff der Bibliothekar bereitwillig auf seine Privatsammlung zurück, die neben wertvollen Pornographien auch viele andere Standardwerke der modernen Literatur enthielt. Dennoch war der Tag abzusehen, an dem selbst diese Quelle erschöpft sein würde.

„Jetzt haben Sie in fünf Jahren mehr gelesen, als mancher Mensch in seinem ganzen Leben", stellte der Bibliothekar fest. „Warum studieren Sie nicht, um ein System in diesen gewaltigen Aufwand zu bringen? Ich meine: Germanistik. Haben Sie Hochschulreife?"

Bernhard F. hatte sie. Zur Fahrprüfung war er ja erst mit achtzehn Jahren zugelassen worden, und bis dahin ist für einen, der warten will, das Gymnasium ohne Zweifel einer der geeignetsten Orte. Er brummte abweisend. Der Gedanke an ein Studium war nicht eben neu, er hatte ihn damals bereits verworfen, als zum ratlosen Staunen seiner Lehrer ihr Lieblingsschüler ausgerechnet ein Chauffeur geworden war. Immerhin, die Situation hatte sich geändert. Was damals als verwerfliches Abweichen von der vorbestimmten Laufbahn erschienen wäre, bot sich heute als unschuldiges Hobby an. Warum nicht? Man würde ihm vorschreiben, was er zu lesen habe, ihn der lästigen Wahl entheben, den Zugang zu neuen und schlechthin unerschöpflichen Bibliotheken eröffnen.

„Ich werde es versuchen", sagte Bernhard F.

Der Versuch wurde zu einem triumphalen Erfolg. Bernhard F. ging zwar in keine Vorlesungen, bezog aber die notwendigen Mitschriften und Skripten von Semesterkollegen, so daß er bei den obligaten Pflichtübungen und Seminarveranstaltungen, die in den meist dienstfreien Abendstunden stattfanden, auf angenehm bescheidene Weise brillierte. Die Professoren verziehen ihm leicht, wenn er hin und wieder fehlte, und priesen ihn als Muster eines strebsamen Werkstudenten. Er bestand wie selbstverständlich alle Staatsprüfungen und Rigorosen, verfaßte eine glänzende Dissertation über den Briefroman in der Romantik und promovierte eines Urlaubstages zum Doktor der Philosophie.

„Was werden Sie jetzt tun?" fragte ihn sein Doktorvater.

Bernhard F. kratzte sich hinter dem rechten Ohr. „Vielleicht werde ich im Herbst mit Jus anfangen", sagte er.

Das Studium der Rechtswissenschaft machte ihm keinen besonderen Spaß, er führte es eigentlich nur deshalb zu Ende, weil ihn die einmal entrichtete Inskriptionsgebühr gereut hätte. Die Staatswissenschaften schlössen sich wie von selbst an. Mehr Vergnügen bereiteten ihm die Theologie und schließlich die Kunstgeschichte. Nebenbei hatte er rnehrere Sprachen erlernt. Auf der Universität galt er längst als Sonderling, aber man gab die Hoffnung nicht auf, daß aus ihm noch ein bedeutender Wissenschaftler werde.

So standen die Dinge, als der Mann, dem das Automobil — mittlerweile ein silbergrauer Rolls Royce — gehörte, in einer komplizierten Steuersache das Gutachten eines berühmten Lehrers des Verwaltungsrechtes benötigte und den kostspieligen Herrn vor seinem Institut persönlich abholte.

„Um Himmels willen, Kollege F., was tun Sie denn da?" rief die Leuchte angesichts des Chauffeurs, der ihr den Wagenschlag aufriß.

„Herr Professor verwechseln mich mit meinem Zwillingsbruder", sagte Bernhard F. ruhig.

„Phantastisch, diese Ähnlichkeit! Ihr Zwillingsbruder also? Sie müssen wissen", fuhr der Professor, nun schon in den roten Juchtenpfühlen schwelgend, zu dem beteiligten Dritten gewandt, fort, „dieser Bernhard F. ist eine Art Wundertier auf unserer Universität. Sammelt Doktorate wie ein anderer* Schmetterlinge. Ein grandioser Vielwisser, ein angehender Gelehrter, aber nicht zu halten: Kaum ist er mit dem einen Studium fertig, geht er schon das nächste an. Jetzt hat er bereits — Augenblick — ja: vier Doktorate: Philosophie, Jus, Staatswissenschaften und Theologie. Und studiert fröhlich weiter. Der Zwillingsbruder Ihres Chauffeurs! Ja, die Welt ist klein." Und nachdenklich ruhten beider Blicke auf den hochroten Ohren des Chauffeur.

Der Tag schlich zu Ende. Bernhard F. hatte sich nicht getraut, in den Wartepausen eine sozialpsychologische Monographie auszupacken. Es war, als wären in dem Papiersack immer neue Bananen und Wurstbrote, und das Zeug hatte die verdammte Eigenschaft, im Mund aufzuquellen, eine umgekehrte Speisung der Fünftausend. Aber es geschah nichts, abgesehen davon, daß die sonst üblichen Leutseligkeiten, die ein Herr seinem Diener zu erweisen pflegt, diesmal nicht stattfanden.

Am anderen Morgen bemühte sich Bernhard F. um den Anschein, als sei die dumme Geschichte einfach vergessen, und tat so unbefangen, daß er auf der Fahrt ins Büro zwischen den Zähnen ein Marschliedchen pfiff. „F.!" befahl es von hinten. „Herr Generaldirektor?" erkundigte sich Bernhard F.

„Bleiben Sie dort drüben stehen. Ich habe ein paar Worte mit Ihnen zu reden. Drehen Sie sich um! Sehen Sie mir ins Gesicht! Sie haben mein Vertrauen grausam enttäuscht, F.! Nein, der Schwindel mit dem Zwillingsbruder verfängt bei mir nicht. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, daß Sie nicht Bernhard heißen, Bernhard F.? Herr Doktor? Herr vierfacher Doktor? Ich bin Ihnen nicht böse, das steht mir nicht zu, aber Sie werden wohl einsehen, daß Sie nicht länger mein Chauffeur sein können. Nein, Sie haben Ihre Pflicht nicht vernachlässigt. Ich werde Ihnen ein blendendes Zeugnis ausstellen. Aber es geht nicht an, daß Sie mich zum Gespött der Leute machen.

Doch, das tun Sie! Man kann sich einen verkrachten Großfürsten als Chauffeur halten, aber keinen angehenden Universitätsprofessor. Ich habe viel Geld und die Macht, die mir dieses Geld gibt. Sie machen beides lächerlich, wenn Sie mit Ihren vier Doktoraten mich herumkutschieren. Ihre Diskretion in Ehren, aber auch Sie können nicht ausschließen, daß sich der gestrige Zwischenfall wiederholt. Ich will nicht warten, bis die Sache auffliegt. Morgen wird Ihnen das Gehalt für die nächsten drei Monate ausgezahlt. So! Und jetzt fahren Sie weiter!

Gestehen Sie: Haben Sie nicht die ganzen Jahre in mir eine Art Idiot gesehen? Nein? Nett von Ihnen. Idioten wie ich haben diese Welt gebaut, daran sollten Sie und Ihresgleichen denken. Gewiß, unsere Welt ist nicht vollkommen, aber ohne uns würden Sie samt ihren Doktoraten heute noch auf einem Baum sitzen und Bananen fressen. Ah, es macht Ihnen offenbar wenig aus, ob Sie die Bananen auf dem Baum oder hinter einem Lenkrad fressen? Und die Doktorate? Nein, mein Lieber, Studieren ist kein bloßer Zeitvertreib, das nehme ich Ihnen nicht ab. Ich vermute vielmehr, daß Sie versuchen wollten, mich auszustechen, und sich darum auf einem Gebiet hervortaten, wo ich nicht mit Ihnen konkurrieren konnte. Ich wußte ja nicht einmal von dem Wettstreit, der da gegen mich im Gang war. Selbst wenn ich mich jetzt stellen wollte, würde ich Ihren Vorsprung nicht mehr einholen. Kann sein, daß ich Sie nicht durchschaue, aber ich will Sie gar nicht durchschauen: Ich will Sie loswerden.

Mein Gott, nun werden Sie bitte nicht metaphysisch! Und fahren Sie langsamer, wir sind hier nicht auf der Autobahn. Als junger Mann habe ich immer die Söhne von wohlhabenden Eltern beneidet. Auch ich hätte gern studiert. Vielleicht wäre ich Arzt geworden oder Rechtsanwalt. Oder ein Universitätsprofessor. Heute frage ich mich, ob das Geld wirklich die Mühe wert war, die ich darauf verwendet habe. Ich bin ein Idiot geworden, der seine Sorgen in Prozenten ausdrücken kann. Auch das ist Schicksal. — Geben Sie acht, auf der Brücke ist eine Baustelle! Anscheinend war ihnen das alte Geländer nicht mehr schön genug.

Fahren Sie doch nicht so verrückt!-Sind Sie wahnsinnig? Stehenbleiben! Steh- "

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