6875275-1978_41_11.jpg
Digital In Arbeit

Er war nie ein Wellenreiter

Werbung
Werbung
Werbung

Ja, die Zeit ändert viel. Dieses unerschütterliche Naturgesetz befördert nicht allein die (so oft erschütternde) Entwicklung des privaten wie des politischen Lebens, es gelangt auch im Bereich der Kunst zu enormer Wirkung. Der Lauf der Literaturgeschichte zum Beispiel ist einem steten Wechsel unterworfen; sie folgt mit schöner Regelmäßigkeit der gerade vorherrschenden Zeitströmung und schlägt, sobald deren Schwung am Widerstand einer neuen Tendenz erlahmt, unverzüglich die nun eine Zeitlang maßgebliche und zielführende Richtung ein.

Rudolf Henz, am 10. Mai 1897 in Göpfritz (Waldviertel) geboren, hat viele literarische Richtungsänderungen miterlebt - aber nicht mitgemacht. Er ist sich und seinem Glauben allezeit treu geblieben. Ein aufrechter katholischer Dichter. Er selbst bezeichnet sich als „christlichen Sozialisten“. Und Friedrich Heer nennt ihn kurzerhand „ein Unikat“. Beide haben recht.

Henz wohnt seit vielen Jahren in Döbling. Zehenthofgasse Nr. 30. Ein Häuschen mit Garten. Ruhige, schöne Lage. Leider treibt im Nebenhaus ein Zahnarzt sein peinliches Geschäft. Hingegen erweist sich Henzens Jagdhund als ein ungefährlicher, sympathischer Zeitgenosse, der auf das ihn betreffende Warnschild an der Eingangstür keine Rücksicht nimmt.

Wir sitzen im Arbeitszimmer, in alten, bequemen Fauteuils, gegenüber dem mächtigen, mit Büchern und Papieren bedeckten Schreibtisch, und Professor Henz erklärt mir, wie die Geschichte der neueren deutschen Literatur sich ihm darstellt. Nämlich als eine Wellenbewegung. „Nach 1945 gab's erst einmal den Neo-Dadaismus, dann kam die Kafka-Welle, die assoziative, die existen-tialistische, die surrealistische Welle ... Ich hab' grundsätzlich nichts gegen Wellen. Aber sie können großen Schaden anrichten, und zwar dann, wenn ein wirkliches Talent von so einer Welle ergriffen und fortgespült wird, seine Persönlichkeit verliert und in der, wie ich es nenne: kollektiven Originalität untertaucht.“

In der Prosa sei jetzt wieder eine Hinwendung zum Naturalismus und zum Realismus zu bemerken, und in der Lyrik lege man wieder Wert auf Klarheit der Worte und Gedanken. Das freut Henz. Denn er ist seit langem davon überzeugt: „Wer nie durch das Chaos hindurch geht, seine Sprache bis zum Grund fragwürdig findet, wird nie eine eigene Sprache finden, die unserer Zeit genügt. Wer aber im Chaos bleibt, die Sprachzertrümmerung als Endzustand ansieht (das avantgardistische Experiment als den Höhepunkt aller Kunst), der findet noch weniger zu einer echten Bewältigung des heutigen Daseins.“

Daseinsbewältigung: Was heißt das für den kritischen katholischen Schriftsteller Henz? Widerstand lei-

sten den gnadenlosen Technikern, den Mechanikern des Daseins, den Demagogen, Reklametrommlern und maskierten Scharlatanen. Zugleich jedoch Zuversicht hegen im Vertrauen auf das Evangelium, die wahrhaft frohe Botschaft. Allein das Christentum könne uns jene Hoffnung geben, durch welche „das Grauen vor einem apokalyptischen Ende unserer freien Gesellschaft“ zu überwinden ist.

Daseinsbewältigung, das heißt: Die Zeit, die so viel ändert, an den festen Grundsätzen eines unwandelbaren Lebenssinns messen. Den Entscheidungen, vor die man Tag für Tag gestellt ist, nicht ausweichen, sondern sie - im Gegenteil - suchen und treffen.

Diese sittliche Forderung hat Rudolf Henz stets erfüllt, und er erfüllt sie noch, so daß er in der Rede zu seinem 80. Geburtstag rechtens von sich hat behaupten können: „Ich lebe noch immer mehr in der Gegenwart als in der Vergangenheit, und noch neugieriger bin ich auf die Zukunft.“

Neugierig sind auch wir, und zwar auf den neuen Roman „Wohin mit den Scherben?“, an dem Henz zur Zeit arbeitet.

Seine unermüdliche Schaffenskraft setzt einen in Erstaunen. Seit dem Jahre 1929 hat er - ohne dabei seine zahlreichen „Nebenbeschäftigungen“ beim Rundfunk, beim Fernsehen, beim P. E. N.-Club, bei Zeitschriften, beim österreichischen Kunstsenat usw. zu vernachlässigen - dreizehn Dramen, je zehn Romane und Gedichtbände, drei Fernsehspiele, zwei Erzählungen und eine Selbstbiographie verfaßt.

Denn der Probleme, die die Welt uns aufgibt, sind genug; sie poetisch zu fassen und zu bewältigen, ist des Dichters erste Pflicht. Er ist dazu berufen, das „Wort in der Zeit“ zu bewahren.

Die Trauerweide vor dem Fenster wiegt sanft sich im Wind. Da Sie weder ein literarischer noch ein ideologischer Wellenreiter sind, haben Sie's heutzutage gewiß nicht leicht, sage ich. Das ist richtig, entgegnet Henz, und er beklagt es, daß seine christliche Grundhaltung den meisten Literaten und Kritikern mißfalle, besonders jenen, die im Namen des Fortschritts für die Meinungsvielfalt in der pluralistischen Gesellschaft eintreten.

Traurig nickt die Weide. Katholische Zahnärzte haben's besser. Doch Rudolf Henz ist weit davon entfernt zu resignieren. Wenn er auch von vielen totgeschwiegen wird, so schweigt er doch nicht. Ob er „in“ ist oder nicht, gilt ihm gleich. Er dichtet weiter. Unbeirrt von kurzlebigen Moden, seinem unveralteteri Glauben vertrauend und wohl wissend, „daß wir durch Literatur die Welt nicht ändern. Wir können es höchstens verhindern oder nur hinausschieben, daß sie sich allzuschnell in eine kollektive Wüste verwandelt.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung