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Erblühen erratischer Gärten

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In den vergangenen 20 Jahren ist ein neues poetisches Selbstbewußtsein in Spanien entstanden, ausgelöst durch zwei entscheidende politische Faktoren, die geeignetere Rahmenbedingungen auf dem Weg zu den internationalen Literaturen schufen: dem demokratischen und europäischen Aufbruch seit dem Ende der Franco-Diktatur. Die katalanische, baskische und galicische Poesie gehören zu den jüngsten Literatursprachen Europas.

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In den vergangenen 20 Jahren ist ein neues poetisches Selbstbewußtsein in Spanien entstanden, ausgelöst durch zwei entscheidende politische Faktoren, die geeignetere Rahmenbedingungen auf dem Weg zu den internationalen Literaturen schufen: dem demokratischen und europäischen Aufbruch seit dem Ende der Franco-Diktatur. Die katalanische, baskische und galicische Poesie gehören zu den jüngsten Literatursprachen Europas.

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Nach der fast vierzigjährigen Diktatur unter Franco (1939-75), die in ihrem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentralismus jede künstlerische Entwicklung der regionalen Vielfalt Spaniens massiv unterdrückte, kam mit der Demokratisierung in den siebziger Jahren eine erste poetische Gruppierung zum Vorschein, die rasch unter der Bezeichnung „Novisimos” bekannt wurde. In den achtziger Jahren, nachdem die einzelnen spanischen Regionen als dezentralisierte „Comunidades auto-nomas” ihre kulturelle Identität, politisch und vor allem auch sprachüch, wiedererlangten, wurden die Länder der Iberischen Halbinsel - Spanien und Portugal - in die Europäischen Gemeinschaften aufgenommen, einer rasanten Industrie-Zivilisation auf der Spur. In diesem bewegten Ambiente des demokratischen und europäischen Aufbruchs wuchs eine weitere poetische Gruppierung heran, die als „Postnovisimos” bekannt wurde.

Die junge spanische Poesie, die sich hauptsächlich aus diesen beiden Generationen zusammensetzt, deren Bezeichnungen allerdings nichtssagend sind, läßt sich anhand einer konkreten Zuordnung treffender charakterisieren: „Poesia del lenguaje” (Poesie der Sprache). Die poetologische Richtungsangabe zwischen „Culturalismo” und „Metapoesia” zieht eine Reihe thematischer Möglichkeiten nach sich, unter anderem Altertum, Mythos, Kunst, Literatur, Subkultur, Drogen und Erotik. Dabei vereinen sie die neuen Autoren in ihrer stilistisch vielfältigen Sehweise, die deutliche Unterschiede zur rhetorisch-sozialkritischen, kommunikativen und experimentell-engagierten Literatur der fünfziger und sechziger Jahre aufweist. Die junge Poesie Spaniens ist durch ein lichtes Formbewußtsein charakterisiert und hat in den vergangenen zwanzig Jahren die wiederzuentdeckenden Möglichkeiten der poetischen Sprache am„renaissancehaf-tep” Aufblühen der spanischsprachigen Dichtung zum Jahrhundertbeginn erforscht, überprüft und umgestaltet. Daß hierbei eine innige Hinwendung zu den Anfängen der modernen spanischen Dichtung stattfindet, die im lateinamerikanischen „Modernismo”, begründet durch den nikaraguanischen Poeten Rüben Dario (1867-1916), ihren künstlerischen Ausdruck sah, ist bemerkenswert. Hier sind die Wurzeln der „hispanischen” Poesie des 20. Jahrhunderts (vor Franco), die eine Vielzahl hervorragender Dichter mit berühmten Werken (unter anderem Miguel de Unamuno, Fede-rico Garcia Lorca, die Brüder Antonio und Manuel Machado, Juan Ramön Jimenez, Rafael Alberti und Jorge Guillen) vorweist, sowie der neueren Dichtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (nach Franco) zu finden.

Tradition wieder aufgegriffen

Stellvertretend für diese poetischen Entwicklungen steht der Autor, Literaturkritiker der großen liberalen Tageszeitung, ABC” von Madrid und Altphilologe, Jaime Siles, geboren 1951 in Valencia, der in den achtziger Jahren das Spanische Kulturinstitut in Wien mehr als fünf Jahre leitete und heuer an der Hochschule im schweizerischen St. Gallen tätig ist. Jaime Siles ist bereits ein international anerkannter Lyriker und Essayist, dessen Gedichte in mehrere Sprachen übertragen wurden. In seinem Gedichtband „Semäforos, semäforos” (Ampeln, Ampeln), für den er 1989 den Internationalen Loe we-Lyrikpreis in Madrid erhielt, wollte Jaime Siles nun „postmoderne”, zeitgenössische Gedichte schreiben, die - nach seinen poetologischen Reflexionen - die sprachliche Ökonomie einer Anzeige und die Erzähltechnik eines „Videoclips” zusammenbringen würde, wobei die Tiefenstrukturen des Mythos wieder aufgenommen und erneut die darstellende Funktion des „Topos” aktualisiert werden sollte.

So kulminiert das mythisch-erotische Sonett „Hymne an Venus” in den folgenden beiden Schlußversen: „Auf den Schnallen deiner Brosche ächzen Knospen aus Jade und Gemmen aus Jasmin.” In einem anderen, früheren Gedicht mit dem Titel „Introitus” heißt es da noch in einer brillant schwerelosen, abstrakteren Form: „Eswarweder ihre Stimme noch ihr Körper. / Ihre Musik war's, / die stets leiser anfing, /ein langsamer Übergang hin zu ihrer

Stimme.” In der freien und modernisierten Version unter dem Titel „Ulysses und die Sirenen” zieht nun der poetische Protagonist durch Zwielichte Etablissements des Urbanen Nachtlebens, „angezogen von den Gesängen einer Bar”, verliert mit einem Glas Gin in der Hand allmählich die Orientierung auf seiner Suche nach der erfüllten Zeit und fragt schließlich im Morgengrauen „nach dem Weg des Tages, / um wieder in die Woche reinzukommen”. Der valencianische Dichter wertet den schöpferischen Vorgang zugunsten der poetischen Erkenntnisvielfalt unterschiedlich: zwischen Denken und Wahrnehmen auf einer sinnig-sinnlichen Suche nach den ursprünglichen Tongesten in Wort und Vers.

Innovative Frauenliteratur

In der j ungen spanischen Poesie wurde eine äußerst wichtige Entdeckung gemacht, die als das avantgardistische Ereignis gefeiert wurde und dennoch allzu schnell übersehen wird: der späte Beginn der modernen Frauenpoesie in Spanien. Als der 1946 in Moraleja bei Cäceres (Extremadura), nahe der portugiesischen Grenze, geborenen Poetin. Pureza Canelo im Jahr 1970 der traditionell nur an männliche Kollegen verliehene, renommierte Adonais-Lyrikpreis in Madrid überreicht wurde, war allmählich der „feminine” Fluchbann gebrochen. In einem neueren Gedicht mit dem Titel „Ihre Materie” reflektiert die Autorin ihr Anderssein: „eine Frau, die sich in ihrem weiten Gedankengang verirrt hat, / die nicht Sticken lernte und keine Zöpfe trug (...)/ und keine mittelalterlichen Genüsse kennenlernte (...) //Das Gedicht ist Ordnung, die Liebe: ein Ordnungsgefüge, / und das Herz kann sich nicht mit menschlichem Vers messen.” Mehrere ausgezeichnete Poetinnen, darunter Clara Janes, geboren 1940 in Barcelona, die andalu-sische Dichterin Ana Rossetti, geboren 1950 in San Fernando/Cädiz, Rosana Acquaroni, geboren 1964 in Madrid, und die galicische Lyrikerin Luisa Castro, geboren 1966, traten seitdem in der sich daran gewöhnenden spanischen Öffentlichkeit überzeugend auf. Somit konnte die junge spanische Poesie endlich die lateinamerikanische Herausforderung fruchtbar annehmen und an der bis zur Jahrhundertwende kontinuierlich zurückgehenden Tradition der modernen Frauenpoesie in Lateinamerika anknüpfen.

Der frühverstorbene, andalusische Poet Pablo del Äguila (1946-68) formulierte bereits in den sechziger Jahren die poetologische Richtung des neuen poetischen Selbstbewußtseins: „subjektiv bis zum äußersten Ende unsres Ursprungs, bis zum ersten Schlußpunkt des unerfüllten Schicksals.” Mit dem Durchbruch der Frauenpoesie in Spanien erhält dieser südwestliche Zweig der europäischen Literatur eine klangreiche Stimme, die es in Mitteleuropa zu entdecken gilt.

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