6819622-1973_27_13.jpg
Digital In Arbeit

Erfahrungen eines erfüllten Lebens

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Autorin, deren literarische Produktion sich mehr durch Progres-sivität und Skandalträchtigkeit als durch Qualität auszeichnet, hat unlängst als Beispiel dafür, daß auch jüngere Schriftsteller eines Tages in die bedrängte Situation der heute alten und ganz alten Autoren kommen werden, ausgerechnet Hans Habe gewählt: groteskerweise, weil er als internationaler Erfolgsautor mit einer Weltauflage von mehr als zehn Millionen, unabhängig von weiteren Einnahmen, immer in großzügigen Verhältnissen leben kann und verständlicherweise, weil er durch seine Kommentare in der „Welt am Sonntag“ den deutschen Lanksintellek-tuellen in corpore oder auch diesem und jenem speziell den Spiegel politischer Schizophrenie vorhält.

Der Literaturbetrieb lebt jedoch heute mehr denn je von den großen international berühmten Romanciers, und zu ihnen zählt seit langem Hans Habe. Noch nie aber hat ein Buch von ihm so gefunkelt, einen solchen Glanz in dem Reichtum seiner geschliffenen Gedanken ausgestrahlt wie das Fazit seiner Lebensreife, das er unter dem Titel Erfahrungen soeben der Öffentlichkeit übergeben hat. In der angelsächsischen Welt wäre ein solches Buch ein literarisches Ereignis, spaltenlang würden sich die großen Blätter damit beschäftigen.

Erfahrungen also, zum Inhalt eines Buches von fast 500 Seiten proklamiert: „Erfahrung ist der einzige wahre Reichtum, weil man ihn nicht verlieren, nur verschenken kann, weil man ihn auch behält, wenn man ihn verschenkt, weil man, Indem man ihn verschenkt, reicher wird, weil der eigene Gewinn gering ist neben dem Geschenk.“ Es sind Erfahrungen eines gelebten Lebens, eines Lebens, das der Fülle nie entbehrte — im Unterschied zu jenen Literaten, von denen Habe an einer Stelle sagt, daß die meisten von ihnen von Jugend an nur Literatur erleben, um daran das Bekenntnis zu knüpfen: „Wenn ich hinter dem Schriftsteller den Literaten entdecke — verständlich, daß der Literat Schriftsteller sein möchte, aber warum sollte sich der Schriftsteller zum Literaten degradieren? — ergreife ich die Flucht.“

Es gibt Bücher, die man nur von der ersten bis zur letzten Seite lesen kann — und gewiß bieten auch Ha-bes „Erfahrungen“ derart eine faszinierende Lektüre —, aber mehr Gewinn noch versprechen jene Bücher, die man an jeder Stelle zum Lesen aufschlagen kann. Wer auf solche Weise Habes „Erfahrungen“ in sich aufnimmt, wird sich erst so recht des ganzen Reichtums dieses Buches bewußt, das sich in neun Themenkreise gliedert: Momente, Realität und Reflex, Gestalten und Begegnungen, Gesellschaft und Generation, Charakter und Lehre, Werk und Handwerk, Eros und Agape, Heimat und Exil, Glauben — und dazu nennt das Inhaltsverzeichnis für jeden Themenkreis die Stichworte, die zur Sprache kommen.

In den Porträts, zu denen Habe manche Begegnungen seines Lebens gestaltet, offenbart sich die bildhafte Ansohauliohkeit seiner Sprache. Man höre etwa die folgende Passage über Willy Brandt: „Ein Deutscher, so deutsch wie das Kyff-häuserdenkmal. — Ist Brandt ein Menschenverächter? Jedenfalls anders als Adenauer. Adenauer saß neben dem lieben Gott und blickte auf die Menschen hinab. Zuweilen holte sich der Alte Rat beim Alten. Auch Brandt sitzt neben dem Stuhl des Höchsten, aber der Stuhl ist leer.“ Zwei große alte weise Männer — Salvador de Madariaga und Max Horkheimer — gewinnen aus vielen Stunden des Gesprächs plastische

Gestalt. Über Somerset Maugham und Graham Greene finden sich aus Wahlverwandtschaft Formulierungen, die ins Schwarze treffen, und mit dem natürlichen Gespür für das Ewige rühmt er Weinheber, den Österreicher, als den letzten deutschen Dichter, der Verse schrieb, wie man sie seit Hölderlein nicht mehr vernommen.

Weit über den Anlaß hinausgehend, fangen die Worte über den Freund Erich Maria Remarque und das Begräbnis, das ihm zuteil wurde, die Verquertheit einer ganzen Epoche ein: „Es war ein stilles Begräbnis, mit viel Blumen und keinen Reden. Kein einziger der Kollegen war anwesend, keine Regierung war vertreten, und welche hätte es auch sein sollen — die deutsche, die amerikanische, die schweizer? Dennoch war es ein langer Zug, der hinter dem Wagen zu dem Dorffriedhof von Ronco sopra Ascona hinaufstieg, zwischen den Mauern, die der Herbst gefärbt hatte. Alle Handwerker des Ortes waren da und der Bäckerjunge und der Kurzwarenhändler und die Ladenmädchen und der Apotheker und die Wirte. Sie sagten nachher, es sei ein schönes Begräbnis gewesen, keiner dachte daran, daß man einen großen deutschen Dichter zu Grabe getragen hattte.“

Ein Zeitalter wird besichtigt, möchte man mit dem Titel eines Buches von Heinrich Mann nicht nur zu der Impression über dieses Re-marque-Begräbnis sagen, sondern zu Habes ganzem Buch. In ihrem konservativen Geist und in der Schärfe des politischen Blicks, in ihrem glasklaren Stil und in der aphoristischen, Zugespitztheit lassen sich seine „Erfahrungen“ den Aphorismen und Tagebuchaufzeichnungen eines der größten österreichischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts an die Seite stellen, dem Wanderbuch eines verabschiedeten „Lanzknechtes“, den „antediluvianischen“ und „postdiluvianischen“ Fidibusschnitzeln des Fürsten Friedrich Schwarzenberg, der als Soldat überall auf Seiten der konservativen Mächte die historische Ordnung Europas gegen die hereinbrechende Revolution verteidigte und als Schreiber nicht müde wurde, das ideologische Gefüge der Zeit vor und nach 1848 aufzudecken, seinen warnenden Ruf vor den Konsequenzen der politischen, ökonomischen und technischen Entwicklung zu erheben.

HANS HABE: ERFAHRUNGEN. Walter-Verlag, Ölten 1973, 464 Seiten, Leinen. DM 26.—.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung