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Erfolgloser Terror aus der Luft

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Im Mai 1943 — vor 30 Jahren — begann der Angriff der Royal Air Force gegen jene deutschen Kraftwerke, die die Rüstungsindustrie des Ruhrgebietes mit Strom versorgten. Bereits wenige Monate vorher hatte sich Luftmarschall Harris durchgesetzt, der bei jeder Gelegenheit seine Uberzeugung kundtat, nur durch konzentriertes Bombardieren der deutschen Städte und die damit verbundene Schockwirkung auf die Arbeiterschaft könne der Krieg gewonnen werden. Ein Erfolg der Talsperrenangriffe hätte beweisen können, daß es auch anders ging. Der Beweis mißlang in den Nächten nach dem 17. Mai 1943. Die Erkenntnis, daß auch Harris nicht recht hatte und daß die Zerstörung der deutschen Städte ihre kriegsentscheidende Wirkung verfehlte, dämmerte Harris' Vorgesetzten erst nach dem Krieg. Ihm selber nie.

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Im Mai 1943 — vor 30 Jahren — begann der Angriff der Royal Air Force gegen jene deutschen Kraftwerke, die die Rüstungsindustrie des Ruhrgebietes mit Strom versorgten. Bereits wenige Monate vorher hatte sich Luftmarschall Harris durchgesetzt, der bei jeder Gelegenheit seine Uberzeugung kundtat, nur durch konzentriertes Bombardieren der deutschen Städte und die damit verbundene Schockwirkung auf die Arbeiterschaft könne der Krieg gewonnen werden. Ein Erfolg der Talsperrenangriffe hätte beweisen können, daß es auch anders ging. Der Beweis mißlang in den Nächten nach dem 17. Mai 1943. Die Erkenntnis, daß auch Harris nicht recht hatte und daß die Zerstörung der deutschen Städte ihre kriegsentscheidende Wirkung verfehlte, dämmerte Harris' Vorgesetzten erst nach dem Krieg. Ihm selber nie.

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Vierzehn schwere Lancaster-Bom-ber, als Sonderausführung eigens für diesen Einsatz gebaut, wollten den deutschen Radargeräten entgehen und flogen deshalb so niedrig über die Nordsee, daß ihre Tragflächen angespritzt wurden. Zwei Maschinen wurden von besonders hochgehenden Wellen erfaßt und zerschellten. Zwei wurden beschädigt und mußten umkehren. Eine Maschine wurde über einem neuen deutschen Flugplatz abgeschossen, der in den Karten der Engländer noch nicht eingetragen war. Eine Maschine gesellte sich einer anderen Gruppe von Flugzeugen mit anderer Aufgabe zu. Die restlichen acht flogen einen der kühnsten Angriffe des

Zweiten Weltkrieges, bei dem es auf ein Maximum von Präzision ankam und der ein Maximum an Wirkung entfalten mußte — wenn er gelang.

Das Unternehmen sollte später unter dem Sammelbegriff der Talsperrenangriffe in die Kriegsgeschichte eingehen. Erstes Ziel war die Zerstörung der Möhnetalsperre, erhoffte Wirkung die Überschwemmung eines Tales, Wasserknappheit in den Rüstungsbetrieben des Ruhrgebietes, vor allem aber Ausfall der Stromversorgung und damit ein womöglich kriegsentscheidender Rückgang der deutschen Rüstungsproduktion.

Die Piloten hatten das Fliegen im Mondlicht wochenlang geübt. Sie kannten alles längst auswendig. Und sde waren wie“ Automaten darauf gedrillt, beim Anflug eine Höhe von genau 18 Metern über dem Wasserspiegel des Stausees einzuhalten.

Die Bomben zur Zerstörung des Möhnedammes und drei weiterer Staudämme waren keine gewöhnlichen Bomben. Es waren eigens konstruierte Luftminen, die äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Plakatsäulen hatten, jede etwas mehr als drei Meter dick und vier Tonnen schwer. Jede Bombe hatte zwei Zünder, einen Hauptzünder, der die Bombe in einer Tiefe von genau zwanzig Metern detonieren ließ, wenn

sie im Stausee versank, und einen Aufschlagzünder mit Verzögerung für den Fall, daß sie die Dammkrone traf — die Verzögerung, um dem Piloten eine Chance zu geben, der Explosion seines eigenen Geschosses zu entkommen.

Diese Bomben hingen quer unter dem Rumpf der Maschinen, ein Motor versetzte sie vor dem Abwurf in schnelle Drehung, so daß sie über die Wasseroberfläche rollten und Hindernisse übersprangen, bevor sie im See versanken.

Vier Tonnen waren für damalige Flugzeuge eine erhebliche Last. Gleitschienen, Antriebsmechanismus, vor allem aber der Treibstoff für den

langen Flug kamen dazu. Deshalb hatten die insgesamt 23 für die Talsperrenangriffe gebauten Lancaster-Bomber in Spezialausführung nur eine geringe Bewaffnung, je eine Kanone vorne und hinten.

Der Leiter des Unternehmens, Oberstleutnant Gibson, holte sich für diese Sonderauf gäbe die besten Leute einer bereits durch tollkühne Tiefangriffe bekanntgewordenen Eliteeinheit. Ein wichtiges Problem war noch ungelöst, als sie zu trainieren begannen: wie die Höhe von genau 18 Metern beim Anflug gegen den Damm eingehalten werden konnte. Die Flieger selbst fanden einen Weg: sie montierten unter jeder Tragfläche einen kleinen Scheinwerfer mit schräg nach vorne und unten gerichtetem Strahl, der Schnittpunkt der beiden Scheinwerferstrahlen lag genau 18 Meter unter der Maschine und etwas vor ihr. Der Pilot hielt die richtige Höhe, indem er den schwachen Lichtfleck vor seinen Augen über die Wasseroberfläche steuerte.

Diese verblüffende Lösung hatte einen schweren Schönheitsfehler: Auf der Dammkrone der Möhnetalsperre standen deutsche Fliegerabwehrgeschütze. Die britischen Flugzeuge mußten diesen Geschützen mit aufgedrehten Scheinwerferh entgegenfliegen und boten auf diese Weise ein ideales Ziel. Dieser Nachteil

wurde in Kauf genommen, weil es damals kein anderes Navigationsverfahren gab, das die Einhaltung einer Höhe von 18 Metern mit hinlänglicher Genauigkeit ermöglichte.

Das eigentliche Training war so hart, daß dabei fünf Flugzeuge zerschellten. Sie schlängelten sich mit einer Geschwindigkeit von 385 km/h durch die vielen, engen, tief eingeschnittenen Täler von Nord-Midland. Sie drillten sich im Erkennen des Sekundenbruchteiles, in dem die Bombe ausgelöst werden mußte, und sie bombardierten immer wieder eine naturgetreue Attrappe der Möhnetalsperre mit Bomben ohne Sprengladung. Die Stahlfässer rollten über das Wasser, sprangen über stählerne Sperrnetze hinweg, sanken erst vor der Dammkrone in die Tiefe und blieben dabei durch die Drehbewegung immer unmittelbar an der Staumauer. Sie übten, bis sie es im Schlaf konnten, denn sie wußten, daß selbst ein Volltreffer auf die Dammkrone erfolglos bleiben mußte. Für eine Explosion in halber Höhe zwischen Dammkrone und Grund konnte den Damm zerstören, wobei ein winziger Riß genügte. Das Übrige würde der Wasserdruck besorgen.

Als sie es im Schlaf konnten, trainierten sie auch noch mit scharfen Bomben. Die Nacht auf den 17. Mai war eine der wenigen Nächte, die im

ganzen Lauf des Jahres als ideal bezeichnet werden konnte: höchster Wasserstand in den Stauseen — und Vollmond.

Gibson hatte noch 18 Flugzeuge. Er teilte sie in zwei Gruppen. Neun Bomber sollten die Möhnetalsperre und, wenn möglich, anschließend auch noch die Edersperre zerstören. Fünf waren ursprünglich auf den Staudamm der Sorpe angesetzt und sollten gleichzeitig den Hauptangriff vortäuschen, um die Nachtjäger von den anderen abzulenken. Vier Bomber blieben als Reserve in England zurück, bereit, am nächsten Abend zu starten, falls das Unternehmen fehlschlug.

Gibson erreichte mit acht Flugzeugen den Möhnedamm. Zwölf leichte Fliegerabwehrgeschütze begannen sofort zu feuern, hatten aber keine „Funkmeßgeräte“ (so lautete der deutsche Ausdruck für das Radar). Es war keine Vernebelungs-anlage vorhanden (!) und kein Warnsystem für die Zivilbevölkerung für den Fall, daß der Damm brach. Die Deutschen schienen das Bruchsteinbauwerk aus dem Jahre 1911 für unverwundbar zu halten.

Während die übrigen Flugzeuge in Wartestellung kreisten, flog Gibson den ersten Angriff, näherte sich, ununterbrochen feuernd, dem Damm, löste die Mine und riß das Flugzeug

über die Dammkrone. Eine riesige Wassersäule stieg in die Luft, doch der Damm hielt. Hauptmann Hopgoot wendete sein Flugzeug über einer Landzunge, zielte mit der Kanzel genau auf den Mittelteil der Staumauer, der Navigator kniete hinter dem Piloten und achtete auf den über die Wasseroberfläche huschenden Lichtfleck der Scheinwerfer, der Bombenschütze, ein Sergeant Fräser, hielt die Hand am Auslöseknopf. Die Geschütze auf dem Damm zielten beängstigend genau und zehn Sekunden vor dem Bombenwurf rief eine entsetzte Stimme: „Wir brennen!“ Während das Flugzeug mit einem getroffenen Benzintank und brennendem Motor, einen orangeroten Feuerschweif hinter sich herzog, zählte der Bombenschütze Fräser mechanisch weiter: „Acht, neun, zehn“, um bei „zehn“ die Bombe auszulösen. Er verfolgte das stürzende Riesenfaß mit den Augen und meinte einen Augenblick, richtig getroffen zu haben, doch die Bombe flog über den Staudamm hinweg, prallte vom Dach des Krafthauses auf der anderen Seite des Dammes ab und detonierte in der Luft, im selben Augenblick riß die Tragfläche des brennenden Flugzeuges ab.

Der Bombenschütze Fräser wußte später nicht mehr, wie er aus dem Flugzeug herausgekommen war, er erinnerte sich nur noch daran, wie er neben dem brennenden Flugzeug am Fallschirm niedersank und in einer Baumkrone am Talrand landete. Er war später einer der wenigen überlebenden Augenzeugen.

Die anderen Flugzeuge mußten volle 13 Minuten kreisen, ehe sich die Staubwolke gelegt hatte. Auch

der dritte Bomber wurde getroffen, obwohl Gibson mit seiner Maschine vor ihm auf die Staumauer zuflog und Feuerschutz gab. Bomber drei wurde in die linke Tragfläche getroffen, der Kraftstoff lief aus, ohne zu brennen, aber die Gewichtsveränderung, die dadurch entstand, warf alle Berechnungen über den Haufen. Die Bombe fiel um 20 Meter zu früh.

Während die vierte Maschine zum Angriff ansetzt, rast Gibson von der anderen Seite mit voll ausgedrehten Positionslichtern auf den Damm zu, um das Feuer sämtlicher Geschütze auf sich zu lenken. Major Young kann daher seinen Angriff mit Exerziergenauigkeit fliegen. Die Bombe fällt auf den Meter so, wie sie soll, rollt über das Wasser, überspringt die Sperrnetze, versinkt — und detoniert.

Ohne Effekt.

Verzweifelt ordnet Gibson den nächsten Angriff an. Während die folgende Mine noch über das Wasser springt, ruft der Bombenschütze in sein Mikrophon: „Ein Riß! Ein Riß in der Mauer!“ Unmittelbar neben diesem Riß explodiert die fünfte Bombe.

Aus dem winzigen Leck in der Mauer, das so klein ist, daß man es nicht sehen kann, sondern nur das hervorsprudelnde Wasser, fliegen plötzlich Trümmer. Meterdicke Wasserstrahlen schießen aus dem Damm,

vereinigen sich zu einer Wand aus Wasser. 132 Millionen Kubikmeter Wasser, 45 Meter hoch aufgestaut, reißen den Damm in Stücke.

Es ist nicht möglich, die Menschen in den Häusern zu warnen. Es gibt zwar Luftschutzsirenen, aber ein Signal für „Dammbruch“ hatte niemand für nötig gehalten.

So ertranken die einen in Ihren Betten, die anderen in den Kellern, eine Frau, die bereits zwei ihrer Kinder auf den Dachboden gerettet hat, ertrinkt beim Versuch, das dritte Kind zu holen. Dreißig Menschen können die Tür eines Tiefbunkers gegen den Druck des Wassers nicht mehr öffnen und gehen elend zugrunde. Ebenso die meisten Frauen in einem Lager für ukrainische Fremdarbeiterinnen.

Die Flut reißt Turbinen und Maschinen mit sich, wälzt sich, zehn Meter hoch, zu Tal, ein Motorradfahrer rast vor ihr her, um zu warnen, aber der Abstand zwischen ihm und dem Wasser ist zu kurz.

1200 Zivüisten starben. Oberstleutnant Gibson flbg mit den restlichen Flugzeugen zur Edersperre weiter. Der Damm war im beginnenden Frühnebel kaum zu erkennen. Die erste Maschine Wiederholte ihren Anflug zweimal und setzte beim dritten Mal die Bombe genau auf den vorausberechneten Punkt. Der Damm bekam sofort einen Riß. Der zweite Bomber warf zu spät, seine Mine explodierte auf der Dammkrone und zerfetzte das Flugzeug. Die dritte Mine riß eine breite Bresche und das schreckliche Schauspiel wiederholte sich: 202 Millionen Kubikmeter Wasser, 47 Meter hoch gestaut, rasten zu Tal. Die Angaben über die Zahl der Todesopfer schwanken zwischen 58 und 300.

Die vier in England zurückgehaltenen Flugzeuge mußten dann doch noch starten. Von den anderen hatte nur eines den Sorpedamm erreicht, die Bombe saß genau im Ziel, aber der Damm, ein dicker Erdwall mit Kernmauer, hielt stand. Er hielt auch den Angriffen der Reservebomber stand. Ebenso wie der Schwelme-damm, der in derselben Nacht ebenfalls noch angegriffen wurde.

Der erhoffte Effekt, eine entscheidende Schwächung der deutschen Ruhrindustrie, blieb aus. Das Wasser der Sorpe rettete das Ruhrgebiet über die Periode der Knappheit hinweg, die zerstörten Sperren konnten in einer niemals für möglich gehaltenen Zeit wiederhergestellt werden.

Weitere Angriffe ähnlicher Art hat die Royal Air Force nicht^ mehr versucht — der Effekt war zu gering, der Preis zu hoch.

Oberstleutnant Gibson wurde als 14. Angehöriger der Air Force mit dem Victoriakreuz dekoriert und von der Front abgezogen. Er kehrte freiwillig zurück und fiel schon im September bei einem Angriff gegen das westliche Reichsgebiet über der Stadt Rheydt.

Der Mißerfolg seiner Mission war ein Sieg des Luftmarschalls Harris, die Talsperrenangriffe waren der-Abschied vom wohlvorbereiteten Bombardement genau definierter militärischer Ziele. Der Rest hieß Flächenbombardement — Tagangriffe, vorwiegend mit Sprengbomben auf amerikanischer, Nachtangriffe mit einer mörderisch ausgeklügelten Kombination von Spreng- und Brandbromben auf britischer Seite. Diese Nachtangriffe lösten jene Flächenbrände aus, die Deutschlands historische Stadtkerne verwüsteten — zuletzt die Innenstadt von Dresden, knapp vor Kriegsende und gegen jeden militärischen Sinn. Daß diese nächtlichen Brandangriffe die deutsche Rüstungsindustrie nicht viel nachhaltiger trafen als die gezielten Angriffe gegen militärisch wertvolle Objekte, erwies sich erst nach dem Krieg.

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