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„Erfrieren mit Gewehr im Arm“

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Wenn ich als ehemaliger Divisionspfarrer der im Bereich von Niederösterreich und Burgenland aufgestellten 297. Infanterie-Division (I. D.) über den Untergang der 6. Armee im Kessel von Stalingrad berichte - Ende Jänner 1942, also vor 40 Jahren — möchte ich versuchen, den Zusammenhang bestimmter militärischer Entscheidungen mit der jeweiligen Weltanschauung aufzuzeigen.

Hitler fühlte sich als eine Art von „Übermensch“, wie Nietzsche ihn verkündet hatte. Stalins

Handlungen basierten auf der Weltanschauung vom Massenmenschen, auf der Philosophie des dialektischen und historischen Materialismus, für den der einzelne Mensch nur ein kleines Rädchen an der großen Maschine Staat ist: ein Rädchen, das man jederzeit durch ein anderes ersetzen kann.

Der „Übermensch“ Hitler vertraute mehr seinen „Eingebungen“, als seinen militärischen Fachleuten. So befahl er etwa am 13. Juli 1942, aus der zur Eroberung von Stalingrad bestimmten Heeresgruppe B ein Panzerkorps herauszulösen, den zu dessen Be- weglichmachung nötigen §prit der 6. Armee wegzunehmen und es in Richtung Rostow und zum

Kaukasus zu schicken. Deshalb saßen die motorisierten Verbände der 6. Armee ohne Treibstoff westlich vom Don fest.

Hitler steckte schon seit längerer Zeit in einer schweren Vertrauenskrise gegenüber führenden Generälen, die seine jeder militärischen Erfahrung widersprechenden „plötzlichen Eingebungen“ und den damit verbundenen häufigen Wechsel der jeweiligen „ersten Prioritäten“ nicht mehr ertragen konnten.

Eigenartigerweise riefen sowohl Hitler als auch Stalin ihre höchsten Kommandeure gerade am Maria-Namen-Fest, also am 12. September 1942 in das jeweilige Oberkommando zu Besprechungen, die zur Wende des Zweiten Weltkriegs führten — vor allem deshalb, weil Hitler die Bedenken seiner höchstrangigen Mitarbeiter im Führerhauptquartier ebenso ignorierte wie die an Ort und Stelle gemachten Erfahrungen seiner Militärs.

Die meldeten, daß die Sowjets aus ihren Brückenköpfen am Don und von den Zazaseen bei Beke- towka aus eine Umfassung der 6. Armee versuchen werden.

Und so geschah es dann auch: Die von den militärischen Befehlshabern schon Monate zuvor warnend angekündete Einschließung der 6. Armee vollzog sich vom 19. bis 23. November 1942 wobei etwa 284.000 Mann (der insgesamt 323.000) im Kessel waren; 35.000 wurden in die Lazarette herausgeflogen von den andern überlebten nur 5000 die Gefangenschaft.

Hitler hat konsequent alle Vorschläge der im Krisengebiet Stalingrad verantwortlichen militärischen Führer (Weichs, von Richthofen, Manstein, Paulus usw.) abgelehnt, der 6. Armee noch rechtzeitig die Erlaubnis zum Ausbruch aus dem Kessel zu geben, als Sprit und Kampfkraft noch vorhanden waren.

Stalin ließ entsprechend dem

von ihm erbeuteten Aufmarschplan die deutschen Soldaten in 79 Tagen etwa 500 Kilometer nach Osten vorstoßen, bis in die Falle von Stalingrad hinein. Inzwischen war seine schon seit langer Zeit zwischen dem Ural und der Wolga aufgebaute und auch vor seinen an den Fronten stehenden Generälen geheimgehaltene strategische Reserve von mehreren hunderttausend Mann militärisch ausgebildet und gut mit Winterbekleidung ausgerüstet worden.

Die Sowjets hatten außerdem inzwischen von der Deutschen Wehrmacht viel gelernt: Sie begannen ihren Durchstoß an der schwächsten Stelle, an dem von den Rumänen und Italienern gesicherten Donknie.

Die Angriffs-Methode der Sowjets war fast immer die gleiche. Nach Artillerievorbereitung oder auch ohne eine solche ließen sie Regiment auf Regiment in geschlossener Phalanx zunächst mit kriegerischen Gesängen — die Arme mit dem Nachbarn untergehakt, damit keiner ausbrechen konnte — auf etwa 300 Meter an die deutsche Stellung heranmarschieren.

Die deutschen Soldaten sahen das natürlich, zögerten jedoch mit der Abwehr. Wenn die Sowjets aber dann auf Befehl mit Urräh- Geschrei zu stürmen begannen, dachten sich doch die meisten: entweder die — oder ich! Die MG’s begannen zu knattern, und nach

einigen Minuten lagen die meisten Angreifer tot oder verwundet am Boden.

Doch bald kam die zweite Welle und hinter jeder stürmenden Gruppe die Kommissare mit gezogener Pistole…

Bei der 8. oder 9. Welle war die deutsche Abwehr schon schwächer. Natürlich hatten auch die Verteidiger Ausfälle, vor allem aber wurde allmählich die Munition knapp. Von der 10. und 11. Welle konnten manche schon bis zu den deutschen Stellungen Vordringen und mit Handgranaten oder im Nahkampf Mann gegen Mann die Stellung auf rollen - und die 12. Welle konnte die Stellung einnehmen.

Eine solche Methode kostete natürlich vielen Angreifern das Leben — aber nach der Weltanschauung des Massenmenschen zählt das einzelne „Rädchen“ an der großen Maschine Staat nicht viel. In Stalingrad fielen etwa 150.000 deutsche Soldaten im Kampf, aber eine Million Sowjetsoldaten.

Wie die Lage der 6. Armee Ende Jänner 1942 aussah, schildert dramatisch der letzte Funkspruch von General Strecker am 26. Jänner: „Truppe kämpft ohne schwere Waffen und ohne Verpflegung bis zum letzten Erschöpfungszustand. Leute fallen um. Erfrieren mit Gewehr im Arm. Strecker.“

Ein erster Stalingrad-Beitrag aus der Feder des Schweizer Militärhistorikers Peter Gosztony erschien in der FURCHE Nr. 50/82 vom 15. Dezember 1982.

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