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Erinnerung

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Auf dem Wenzelsplatz bildeten sich lange Menschenschlangen, wenn die Zeitungsverkäufer den „Vecerni Praha“ mit den neuesten Schlagzeilen ausriefen. Es gab keine Zensur mehr in der CSSR. Auf der Straße wurde man von Menschen angesprochen: „Was sagen Sie zu der Entwicklung hier bei uns?“ Und ich erinnere mich an den Publizistikstudenten, der nach einem langen Gespräch sagte: „Wir haben eine Chance bekommen, und wir werden sie nützen. Etwa 20 Jahre brauchen wir noch, um in diesem Land normal leben zu können.“

Eindrücke vom .Prager Frühling“ 1968.

Der Mann, der diese Hoffnung weckte, Alexander Dubcek, wird in wenigen Tagen 65 Jahre alt: Ein 1955-1958 an der Parteihochschule in Moskau geschulter Kommunist, der 1963 in das Parteipräsidium der tschechoslowakischen KP aufrückte und im Jänner 1968 Antonin Novotny als Parteichef ablöste. ObwohlDubcek die Macht nicht wollte. Er war ein routinierter Funktionär, hatte sich aber Ehrlichkeit und Offenheit bewahrt.

Als dann am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR einmarschierten, sagte Dubcek mit Tränen in den Augen: „Das ist die größte Tragödie meines Lebens. Mir so etwas anzutun, mir, der ich mein Leben lang für die Freundschaft der Sowjetunion und der Tschechoslowakei gearbeitet habe.“

Dubcek durfte dann noch etwas mehr als ein halbes Jahr Parteichef bleiben, wurde schließlich als Botschafter in die Türkei abgeschoben und arbeitete nach seinem Parteiausschluß 1970 bei der Bezirksverwaltung in Preßburg.

Er wollte unter dem Druck von unten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Dabei überschätzte er die Wirkung seines guten Willens, er schätzte die Russen völlig falsch ein und unterschätzte die Sprengkraft radikaler demokratischer Kritik.

Der Preis, den die Russen fürDubceks Niederlage zahlten, war hoch: Das Ende der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft und „das Ende einer Illusion“ für viele Intellektuelle. So. betitelte der österreichische Kommunist Ernst Fischer den zweiten Band seiner Erinnerungen.

Die Niederwerfung der Ungarnrevolte 1956 hatte Ernst Fischer noch verkraftet. Der .Panzerkommunismus“, der dem Prager Frühling ein Ende machte, veran-laßte ihn, an seinem letzten Lebenstag ein bemerkenswertes Bekenntnis niederzuschreiben: ,Jch gebe zu: Es ist ein Glück für dieses Land, daß es nicht kommunistisch wurde, die Tschechoslowakei und Ungarn beneiden uns.“

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