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Erinnerung
Die Welle der Hilfsbereitschaft ist beeindruckend, aber leider wird der Sowjetunion mit Nahrungsmittellieferungen nicht zu helfen sein. Das von Michail Gorbatschow immer wieder beschworene „gemeinsame europäische Haus " stockt im Aufbau, und seine Bewohner haben allen Grund, zu Beginn dieses Jahres mit Bangen nach Moskau zu blicken. Noch im alten Jahr verabschiedete sich Außenminister Schewardnadse mit der kryptischen Warnung vor einer Diktatur, und Präsident Gorbatschow holte sich einen geeichten Konservativenais Vizepräsidenten.
Man wird an Andrej Sacha-row erinnert, der vor etwas mehr als einem Jahr starb. Als eines seiner Vermächtnisse hat er auch eine Warnung hinterlassen: „Ich glaube, daß es sehr gefährlich ist, unbegrenzte Macht in den Händen eines Mannes zu konzentrieren, wie das Gorbatschow versucht hat." Knapp vor seinem Tod warf der Wissenschafter dem Kreml-Chef auch vor, daß dieser nicht mit den progressiven Kräften koaliere, die die Perestrojka unterstützen, sondern daß er eine Vorliebe für die politisch Gehorsamen habe und für die Kontrollierbaren - auch wenn sie reaktionär seien. Das Machtbewußtsein Gorbatschows schien Sacharow immer unheimlicher zu werden.
Seit dem Aufstieg Gorbatschows sind die Theorien nicht verstummt, deren Verfechter behaupten, daß der Erfinder von Glasnost und Perestrojka eigentlich ein Geschöpf des KGB sei. Demnach wäre die Entlassung der Satellitenländer aus dem Machtbereich der Sowjetunion eine wohlgeplante Aktion gewesen. Das Sowjetreich befreit sich rechtzeitig von seinem aufrührerischen Glacis, um seinen eigenen Bestand zu sichern - mit einem Mann an der Spitze, der das Vertrauen des Westens genießt.
Die andere Variante politischer Überlegungen ist, daß Gorbatschow zwischen den Forderungen der Radikalreformer und der Konservativen zerrieben wird. KGB, Armee und Partei sind noch immer Machtbastionen, denen der Reformer Gorbatschow so viele Zugeständnisse machen muß, daß sich die eigentlichen Ziele der Perestrojka immer mehr verflüchtigen.
Sicher ist nur eins: Die vom Generalsekretär propagierte Glanost hat bis jetzt nicht zu dem geführt, was sich Sacharow erhofft hatte: im Land eine neue moralische Atmosphäre zu schaffen: „Die verderbliche Lüge, das Verschweigenunddie Heuchelei müssen ein für allemal aus unserem Leben verschwinden ", hatte Andrej Sacharow gefordert, damit sich Menschen entwickeln könnten, „die innerlich frei sind".
Wenn Schewardnadse ein solcher Mensch ist, sieht er offensichtlich keine Chance mehr für eine Politik, die ihm entspricht.
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