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Erinnerung an Angelika

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Vor einigen Tagen erhielt ich folgende Todesanzeige: „Wir können die Kinder nach unserem Sinn nicht formen. So wie Gott sie uns gab, so wollen wir sie haben und lieben.

Die gemeinsame glückliche Zeit mit unserer lieben Tochter Angelika Maria (10. 1.1991 bis 22.1.1991) ist durch einen Herzfehler nach so wenigen Tagen zu Ende gegangen. Wir nehmen Abschied von ihr...

Am 2. Februar wollen wir in der Pfarrkirche bei der Meßfeier für die frohen Stunden mit unserer kleinen Angelika danken und um Kraft für unsere junge Familie bitten.”

Die Vorgeschichte ist rasch erzählt: Als Angelika auf die Welt kam, schien alles in Ordnung zu sein, und die Freude war groß. Nach einigen glücklichen Tagen im Kreis ihrer Familie - Angelika war das dritte Kind - veränderte sich plötz-1 ich ihr Befinden, und sie wurde auf die Intensivstation gebracht. Bald schon wußte man: Angelika muß operiert werden, aber der Ausgang ist ungewiß. Daher entschlossen sich die Eltern, ihrem Kind die Nottaufe spenden zu lassen. Von Ärzten und Schwestern ebenso liebevoll wie fachkundig betreut und umgeben von Apparaten, die ihr das irdische Leben erhalten sollten, lag sie in ihrem Bettchen und kämpfte, ohne es zu wissen, um ihr junges Leben. Den Ausgang dieses Ringens konnte ich nicht beeinflussen, aber durch das unscheinbare Zeichen der Taufe durfte ich die kleine Angelika-Maria in den geheimnisvollen Lebensstrom einbinden, der von Christus ausgeht und hinüberströmt ins ewige, endgültige, nicht mehr zu verlierende Leben in Gott: damit sie das Leben „in Überfülle” hat, wie Jesus einmal sagt.

So wurde das kranke, um sein irdisches Leben ringende Kind in Gegenwart seiner Eltern und seiner Patin in die Gemeinschaft der heiligen, römisch-katholischen Kirche aufgenommen.

Natürlich kreiste dann unser Gespräch um die Frage, wie es weitergehen werde. Aber weder das Bemühen der Ärzte noch die zärtliche Liebe seiner Eltern konnten sie retten: Angelika ist gestorben, bevor sie, menschlich gesehen, überhaupt zu leben begonnen hatte. Sie wurde nur zwölf Tage alt, und was bleibt, ist die Erinnerung.

Ein Gedanke drängt sich auf: Wie, wenn man aufgrund einer vorgeburtlichen Diagnose gewußt hätte, daß sie nicht lebensfähig sein würde? Unzählige Diskussionen über Abtreibung und Recht auf Leben tauchen in meiner Erinnerung auf, in deren Verlauf man mir wieder und wieder entgegenhielt: Es ist einer Frau nicht zuzumuten, ein krankes oder gar lebensunfähiges Kind auszutragen! Mir fällt der junge Mediziner ein, der den Sachverhalt elegant so zu verschleiern suchte: „Aufgrund der pränatalen Diagnostik können wir heute behinderte Kinder vermeiden”, oder auch jener Arzt, der eine neue, dem Fortschritt der Medizin unterworfene „Ethik” verlangte... Wie macht man ihm nur klar, daß es in der Moral genauso objektiv zugeht wie in der Medizin: Unmoral wird nicht zur Moral, nur weil man sie „neue Ethik” nennt - so wie Gift Gift bleibt, was immer man auf die Flasche schreibt.

Zwölf Tage hat Angelika gelebt. Sie wurde von ihren Eltern angenommen und geliebt, so wie sie war, einschließlich ihrer Unfähigkeit zu Eine kurze, glückliche Zeit miteinander leben. Ihre Eltern werden sie nie vergessen, erst recht haben sie keinen Grund, die Zeit der Schwangerschaft und das Ende zu verdrängen. Sie werden immer mit Sehnsucht und Wehmut an sie denken, aber nie mit jener Scham und Reue, die unausweichlichmit der Tötung eines Kindes - ganz gleich, ob es geboren oder ungeboren, lebensfähig oder nicht lebensfähig ist - letzt-lich verbunden ist. Wie anders „schmecken” die Tränen, die ein Todesfall wie derjenige der Angelika hervorruft, als die Tränen, die die Folge eines schlechten Gewissens sind!

Die Eltern leiden am Tod ihrer Tochter, wie man eben an einem schweren Verlust leidet, und sie suchen Trost. Aber sie bedürfen weder einer Therapie, weil sie ja nicht krank sind, noch der Verarbeitung irgendeiner Schuld oder, christlich geredet, der Umkehr und Vergebung durch das Sakrament der Buße. Darum haben sie den inneren Frieden nicht verloren und sind trotz des Verlustes glückliche Eltern. Die Tage, die Angelika bei ihnen war, gehören für immer zum Reichtum ihres Lebens.

Im Licht des Glaubens geben sie Gott ihre menschliche Antwort auf das, was geschehen ist: „Die gemeinsame glückliche Zeit mit unserer lieben Tochter Angelika Maria ist zu Ende gegangen. Wir nehmen Abschied von ihr. Wir wollen Gott für die frohen Stunden mit unserer kleinen Angelika danken und um Kraft für unsere junge Familie bitten.” In jenem anderen Leben, für das jeder Mensch bestimmt ist, wartet von nun an ihre Tochter auf sie, ohne Ende.

P. S.: Ganz ähnlich haben meine eigenen Eltern - und damit auch ich und meine Geschwister - wenige Wochen nach der Geburt eine Tochter verloren. Sie haben die Erinnerung an sie immer wachgehalten, gerade auch bei uns Kindern. So ist es in meinem geistigen Weltbild bis heute eine einfache, unerschütterliche Wahrheit, daß ich im Himmel eine Schwester habe, die mein Leben durch ihre liebende Fürbitte begleitet und die ich am Tag meines eigenen Heimgehens kennenlernen werde. Auch für mich gilt: Meine Schwester Maria, die ich nie gesehen habe, gehört zum Reichtum meines Lebens.

Der Autor ist Professor für Moraltheologie an der theologischen Fakultät in Heiligenkreuz.

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