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Erinnerung an eine ferne Nacht

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Ich war ein Kind, als wir von der Kuno-Fischer-Straße in die Holtzendorffstraße umzogen. Hochparterre.

Von der Straße führten vier Steinstufen zum Portal. Wenn man läutete, erschien rechts vom Eingang in einem winzigen Fenster der graue Kopf des Hauswarts.

Im Hausflur führten siebzehn Marmorstufen, die zu dieser Zeit mit nichts anderem belegt sein konnten als mit rotem Plüsch, ins Hochparterre. Die Wand, auf die man zuging, war ein riesiger goldgerahmter Spiegel, in dem man langsam oder schnell auftauchte, je nachdem, ob man die Marmorstufen einzeln oder in Sprüngen nahm.

„Schließen Sie immer gut ab“ , riet Herr Neumann, „hier ist schon zweimal eingebrochen worden. Ihr Vorgänger ist deshalb ausgezogen.“

Mein Vater ließ wenig später an beiden Türen, der vorderen und der, die von der Küche ins Hinterhaus führte, zwei Sicherheitsschlösser anbringen.

„So, kleines Fräulein, und nun paß mal auf“ , sagte der Mann, der die Schlösser montierte, „wenn da einer herangeht, der hier nichts zu suchen hat…“

Ich erschrak und hielt mir die Ohren zu vor dem schrillen Lärm der Alarmglocke. Der Mann lachte zufrieden und packte sein Werkzeug ein.

Die Alarmglocke schrillte in der Nacht, als ich im Schlafzimmer der Eltern schlafen durfte, weil ich Fieber hatte.

Mein Vater war so schnell auf, als wäre er wach im Bett gelegen und hätte auf die Glocke gewartet. Meine Mutter wollte ihm nach, kam aber mit einem Blick auf mich zurück und setzte sich neben mich. Die Fenster zum Hof waren offen, die Vorhänge zugezogen. Obwohl die Alarmglocke noch immer schrillte, hörten wir die Männer über den Hof rennen. Ihre Schritte hallten auf den Steinen, wurden leiser, verstummten.

Auch die Glocke verstummte. Mein Vater kam zurück.

„Es waren zwei. Ich hab sie laufen sehen. Sie haben sehr saubere Arbeit geleistet.“

Wir gingen in die Küche. Die starke Metallstange war verbogen, die Tür hing schief, wurde nur noch von der altmodischen Kette in einer Metallschließe gehalten, auf der meine Mutter bestanden hatte. Die Männer wären in wenigen Minuten in der Küche gewesen, wenn die Alarmglocke sie nicht vertrieben hätte.

Wir gingen die Stufen der Hintertreppe hihunter. Im Hof lehnte eine Leiter am Küchenfenster. Anscheinend hatten sie zuerst versucht, hier einzusteigen. Unter dem Schild neben der Tür „Eingang für Dienstboten und Lieferanten“ lag ein Handschuh. Mein Vater hob ihn auf, sah lange auf das Schild.

Herr Neumann erschien, bleich und hilfreich.

„Ist was passiert? Sind Sie — nein? Gesindel. Man ist seines Lebens nicht mehr sicher. Meine Leiter — “ er nahm die Leiter weg und trug sie in den Hausgang.

„Was sind das für Zeiten? Man ist seines Lebens nicht mehr sicher. Sie müssen sofort die Polizei anrufen.“

„Warum?“ sagte mein Vater, „die sind doch längst über alle Berge.“

„Aber man sollte…“

„Wir sollten einen Cognac trinken“ , sagte mein Vater.

Dagegen hatten weder Herr Neumann noch meine Mutter etwas einzuwenden. Wir tranken ihn in der Küche. Ich bekam auch einen Schluck.

Dann gingen meine Mutter und ich zu Bett.

„Ich begleite Herrn Neumann noch in seine Wohnung und richte mich dann hier in der Küche ein.

Ihr braucht euch keine Gedanken zu machen. Die kommen nicht wieder.“

„Was haben sie denn nur gewollt?“ fragte meine Mutter.

Mein Vater zuckte die Achseln. Er betrachtete den Handschuh. Er war aus grauer Wolle und voller Löcher.

Am anderen Morgen saßen wir beim Frühstück.

In meinen Ohren schrillte noch immer die Alarmglocke, klangen die hallenden Laufschritte im Hof. Plötzlich war nichts mehr sicher. Ich traute den Wänden nicht mehr, den Türen, dem Dach über unserem Kopf.

„Was haben sie denn nur gewollt?“ fragte meine Mutter, die geduldig genug war, ein Gespräch offenzulassen, die hartnäckig genug war, es bei der ersten Gelegenheit wieder aufzunehmen.

Mein Vater sagte: „Etwas, was sie nicht haben.“

Meine Mutter sah sich um: „Bücher? Ein paar Bilder, Teppiche?“

„Warum nicht. Das hätten sie sicher genommen. Aber sie meinen etwas anderes. Bilder und Teppiche sind nur ein Ersatz für das, was sie nie bekommen haben.“

„Du —“ sagte meine Mutter, „du hättest Missionar werden sollen.“

„Da sei Gott vor“ , sagte Vater.

„Oder Richter.“

„Schon besser.“

„Am liebsten würdest du alle Türen offenlassen und rufen: .Hereinspaziert, meine Herrschaften, hereinspaziert!“ “

„Du wärest mein bester Ausrufer.“ *

„Unsinn.“

Ich sah von einem zum anderen. Was meinte die Mutter mit den offenstehenden Türen? Der Vater hatte doch die Schlösser anbringen lassen.

Mein Vater sah mich an über den Rand seiner Tasse. Ich hatte Angst, daß er fragen könnte, ob ich Angst gehabt hatte. Er fragte nicht.

Als er sich verabschiedete, um in die Bank zu fahren, beugte er sich herunter und sagte leise: „Wir sind ja da.“ Und obwohl ich ein Kind war, wußte ich, daß das zu den beiden Männern, die in der Nacht über den Hof gelaufen waren, niemand gesagt hatte, als sie Kinder waren.

Jahre später, als die Wände, die Dächer, die Häuser einstürzten, als ganze Städte im Feuer blieben, auch unsere Stadt, fiel es mir wieder ein.

Da hatte ich aber schon erfahren, daß es andere Sicherheiten sind, die uns tragen, als Wände, Türen und Häuser.

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