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Erinnerung an eine Nacht

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Vergebens bemühte sich der Portier des kleinen Hotels, einer stockheiseren Dame begreiflich zu machen, daß kein Zimmer mehr frei sei; je weniger sie sich verständlich machen konnte, um so lauter glaubte er mit ihr reden zu müssen. Auf mich, der währenddessen im Hintergrund wartete, warf er über die Gläser seiner Brille einen sympathisierenden Blick. Er betrachtete mein Touristenkostüm, bezog den Rucksack in die Rechnung ein und sagte beiläufig: „Unter dem Dach könnte ich Ihnen ein Platzerl freimachen - aber Bett haben wir keines drinnen.“

Ich war ihm dankbar. Nicht allein, weil nirgends am Ort ein Quartier aufzutreiben war: wurde ich doch von all dem entbunden, was wir gemeinhin Zivilisation nennen. Ein Dach über dem Kopf im allernächsten Sinn, mehr braucht es nicht, um mich vor der Nacht zu schützen; der Rucksack, selber ein Kopfkissen, barg eine Wolldecke. So stieg ich erleichtert hinter dem herkulisch atmenden Hausdiener sieben Stockwerke empor, ließ mir den Bretterverschlag anweisen, den der Hotelbevollmächtigte als „Raum“ bezeichnet hatte, und verzichtete auf ein Kerzenlicht, ehe es mir der Brandgefahr wegen verweigert worden wäre.

Die Taschenlampe erhellte auszugsweise meine Umgebung. Staubige Wände und schiefhängende Schindeln. In den Ecken tuschelten Mäuse, es knisterte, raschelte, ächzte, gespensterte ringsum, und Speichergeruch umnebelte meine Sinne. Ich stieß die Luke auf, die sich knirschend in Scharnieren heben ließ; eine

Spinne floh; Rost rieselte leise nieder. Man sah auf hohe Dächer hinab und in eine schwarz umdämpfte Nacht hinein, an deren andalusischer Stirn ein seltsames Kleinod blitzte: ein neues Sternbild, dachte ich blöde, ein Komet, ein Phänomen — denn mitten im Himmel über der lieben alten Stadt Innsbruck schwebte ein Sternenkranz; es waren die Lichter der Hungerburg und hoch darüber noch das fernere Blitzen der Hafelekar-Bergstation.

Die Augen gewöhnten sich an die verschwärzte Nacht, ich begann die Konturen von Dächern zu erkennen, wie ich sie in solcher Perspektivierung bislang unbewußt aus Bildwerken in der Erinnerung getragen hatte. Ich fühlte am Spannen der Lider, wie ich die Augen aufriß; das Hotel aber entschwand, gleichsam schwebte ich da draußen in der Weite umher, wie die Seele nach indischer Lehre während des Schlafes den Körper verläßt, um himmlische Gestade aufzusuchen.

Als ich zu mir zurücktauchte, mußte ich staunen; ich reimte mir zusammen, was der Dachboden sollte, und freute mich ein zweites Mal der abenteuerlichen Schlafgelegenheit. Die Decken ausgebreitet, legte ich den Mäusen und den Spinnen kameradschaftlich ans Herz, den Eindringling ungeschoren zu lassen.

Dann ließ ich mich vom Summen der stummen Luft in die Spätnacht, in den Morgen hineintragen; blinzelte beglückt, als der Himmel schräg über mir eine grünlichblasse Färbung anzunehmen begann, hörte den ersten Vogel dieses Tages wispern und nahm den Klang der Kirchenglokken von Innsbruck auf, der sich hier oben seraphisch anließ.

Gelb, frischgebacken, leuchtete die Nordkette, bald fing sie zu dampfen und brodeln an, zerrissene Wolken umgarnten die Grate, und die Gipfel glichen Giebeln im Morgentraum. In der Ecke meiner Kammer saß eine graue Maus mit klugen Äuglein, hob zag die Vorderfüße und setzte mit tapsenden Sprüngen davon. Der Tag war angebrochen.

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