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Erinnerung an Freiheit

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Täglich lesen und hören wir von den großen internationalen. Gegensätzen, di das weltpolitische Klima bestimmen. Man redet vom Gegensatz zwischen Ost und West, zwischen dem nördlichen „Wohlstandsgürtel“ und der südlichen Zone der unterentwickelten Länder. Man redet vom Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus; zwischen Unternehmern und Gewerkschaften; zwischen Staat und Gesellschaft. Nur von einem Gegensatz, der fundamentaler ist, wird kaum mehr gesprochen: von dem Gegensatz zwischen Freiheit und Unfreiheit.

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Täglich lesen und hören wir von den großen internationalen. Gegensätzen, di das weltpolitische Klima bestimmen. Man redet vom Gegensatz zwischen Ost und West, zwischen dem nördlichen „Wohlstandsgürtel“ und der südlichen Zone der unterentwickelten Länder. Man redet vom Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus; zwischen Unternehmern und Gewerkschaften; zwischen Staat und Gesellschaft. Nur von einem Gegensatz, der fundamentaler ist, wird kaum mehr gesprochen: von dem Gegensatz zwischen Freiheit und Unfreiheit.

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Wer an ihn zu erinnern wagt, gilt schon seit Jahren als entspannungsfeindlicher „kalter Krieger“. Wer spricht noch vom freien und vom unfreien Teil Deutschlands? Wer von den westlichen Institutionen der Freiheit und ihrem äußersten Gegensatz: den totalitären Diktaturen Breschnjews, Maos, Castros und anderer? Wenn man die Politiker und Meinungsmacher reden hört, dann könnte man glauben, daß in den verschiedenen Gegensätzen der Welt nicht mehr auf dem Spiel stünde als Wohlstand und Armut oder Kollektiveigentum und Privateigentum. Wenn vom „Wettbewerb der Systeme“ gesprochen wird, dann unterstellt man häufig die groteske Annahme, als ginge es hier bloß darum, welche Gesellschaftsform die andere in der Anzahl technischer Erfindungen oder im Ausmaß der Weizenernten übertreffen wird.

Nun, ich habe nichts gegen einen solchen Wettbewerb einzuwenden: Seine bisherigen Ergebnisse sprechen für die Überlegenheit des westlichen Systems. Doch selbst im unwahrscheinlichen Falle, daß der Kommunismus in der forcierten Entwicklung von Naturwissenschaft , und Technik die kapitalistischen Gesellschaften langfristig überrunden würde, wäre damit noch immer nicht entschieden, welches die bessere Regierungsform ist: die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie oder die totalitäre Ein-Partei-Diktatur.

Von diesem Gegensatz ist jedoch in den politischen Auseinandersetzungen seit mehr als zehn Jahren immer weniger die Rede. Daß sich der weltweite Konflikt zwischen West und Ost primär nicht den Verschiedenheiten zweier ökonomischer Ordnungen verdankt, sondern dem durch keine „Entspannung“ zu mildernden Gegensatz zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen den Institutionen der Freiheit und dem totalitären Despotismus — daran müssen uns russische, polnische und tschechische Wissenschaftler, Schriftsteller, Historiker und Philosophen erinnern. Der Westen lebt im Zustand einer pathologischen Freiheitsvergessenheit.

Er vergißt, daß Freiheit in der Weltgeschichte nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist; und daß politische Freiheit niemals ohne bestimmte institutionelle, moralische und im weitesten Sinn religiöse Voraussetzungen bestehen kann. Er vergißt, daß der Menschheit eher ein Verschwinden der Freiheit denn ein Absterben totalitärer Herrschaft bevorsteht. Ist der Westen der Freiheit müde? Er ist zumindest dabei, zu vergessen, daß Freiheit zu den Grundwerten europäischen Selbstverständnisses gehört, während sie in der altägyptischen Kultur eine unbekannte Idee gewesen ist.

Die unter den Pharaonen lebenden Ägypter haben vermutlich nicht einmal das Bewußtsein gehabt, despotisch regiert zu werden. Und eben deshalb blieben sie auch unfrei. Wenn Europa und die Ende des 18. Jahrhunderts von abendländisch geprägten Männern gegründete amerikanische Gesellschaft ihre Identität bewahren, wollen, dann werden sie sich auf das Wesen der Freiheit besinnen und eine Philosophie der Freiheit entwickeln müssen. Eine solche Philosophie der Freiheit wird nicht zuletzt sowohl den marxistischen als auch den technokratischen Freiheitsbegriff als Häresien entlarven müssen.

Freiheit bedeutet nicht Willkür: sie steht in einem inneren Zusammenhang zu einer sie sowohl begrenzenden wie auch tragenden Verpflichtung. Freiheit setzt das voraus, was sie begrenzt: Normen, Gesetze, religiöse, rechtliche und politische Loyalitäten.

Ein Schiff ist „frei“ — das heißt nicht, daß es willkürlich in See stechen kann. Ein freies Schiff ist nicht Steuer- und kompaßlos. Auf dem Schiff in Melvilles „Benito Cereno“ haben sich die Sklaven befreit und den Kapitän gefesselt. Aber sie können nicht zu ihrem Ziel kommen, da das Schiff nun steuerlos ist. Obwohl befreit, befinden sie sich im Zustand äußerster Unfreiheit. Ein Schiff ist in „Freiheit“ — das kann nur heißen: daß es fähig ist, einen gewählten Kurs zu verfolgen, sich in der Verfolgung dieses Kurses zu orientieren und zu korrigieren durch Aufnahmebereitschaft für die Botschaften der Außenwelt. Ohne den Willen, auch Zwänge als Herausforderung (als challenge im Sinne Arnold J. Toyn-bees) anzunehmen, läuft jede Freiheit Gefahr, sich zu verlieren oder wie ein blindes Geschoß allein von seiner Vergangenheit angetrieben zu werden. Eingefügt in die Ordnungen der Technik, der Gesetze des internationalen Verkehrs und der allumfassenden Natur, ist das Schiff gleichwohl nicht unfrei.

Es gibt nur eine begrenzte Freiheit. Doch der Mensch ist nicht eingemauert in die Schranken seiner irdischen Gehäuse und Einrichtungen. Er vermag auch noch die härtesten Schranken seiner Freiheit in Bestätigungen seiner Freiheit zu verwandeln. Das ist die Freiheft, in der und für die jene beiden Männer starben, denen die europäische Zivilisation der Freiheit unendlich und für immer verpflichtet ist: Sokrates und Jesus Christus. Seit 'ihnen wissen wir, daß man auch noch in Ketten frei sein kann; und daß ein noch so freies Gemeinwesen die Freiheit nur ermöglichen, nicht aber schenken kann.

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