7000438-1987_23_15.jpg
Digital In Arbeit

Erinnerung, fernes Glück

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Erinnerung, die sehr früh in der Kindheit liegen muß, drängt sich immer wieder bis ins Nachvollziehbare eines vom Verstand her nicht zu motivierenden Glücksgefühls. Nennen wir sie die „Schnee-Ekstase“ beim Erwachen in der Sonntagsmorgenfrühe.

Das geschah aber nicht in meinem Vaterhaus mit dem Kastanienhof und den Geflügel stallen und dem Polterschwein und dem großen Garten dahinter, dem Haus, an dessen Zimmer und Gänge, Holzdielen und Teppichgärten ich eine Menge frühe Erinnerungen jederzeit in mir wach-

rufen kann; vielmehr stammt diese Schneeszene aus der Sommervilla der Familie Fehringer.

Das war eine Villa in Weißenbach an der Triesting, geräumig und im Winter weniger praktisch wegen der veralteten Heizmöglichkeiten, eine Villa, wie die wohlhabenden Bürger sie im neunzehnten Jahrhundert als Sommersitz für die Frauen und Kinder irgendwo in der Nähe Wiens, also in Niederösterreich, erbauten. Und sie wurde von der Wiener Neustädter Familie Fehringer und ihren in Wien lebenden Angehörigen meist nur in der schönen Jahreszeit bewohnt, daher stammte wohl die Bezeichnung „Sommervilla“ , die ich irgendwann aufgeschnappt und im Gedächtnis behalten habe.

Eine der vier Fehringertöchter war unsere Erzieherin, ein Mädchen aus gutem Hause, wie man damals sagte, das selbstverständlich sehr bald in unsere familiäre Gemeinschaft integriert war. Wir nannten sie „unsere Hilde“ , obwohl sie Franziska hieß und uns bei ihrem ersten Auftreten als das Fräulein Fanni bekanntgemacht wurde. Aber Namengeben gehörte mit ins frühkindliche Spiel mit Worten, von denen die Erwachsenen nichts verstanden.

Für uns zweisprachig aufgezogene Kinder, die im Denken und Sprechen damals noch zwanglos zwischen Englisch und Deutsch wechselten, bedeutete „Fanni“ soviel wie „funny“ , wir fanden sie aber nicht komisch, sondern suchten gleich am ersten Tag nach einem Namen für sie, der unsere Ansicht über sie ausdrücken sollte: es war irgend etwas zwischen „Lieblichkeit“ und „Ernstnehmen“ . Da sie den neuen Namen akzeptierte, blieben wir lebenslang hartnäckig dabei, sie „unsere Hilde“ zu nennen, wobei das besitzanzeigende Fürwort Zusammengehörigkeitsgefühl und schon nach ganz kurzer Zeit Zärtlichkeit ausdrückte.

Lieblich war sie eigentlich überhaupt nicht, das habe ich aber erst kapiert, als ich schon fast erwachsen war. Kinder sind von stereotypen ästhetischen Übereinkünften noch vollkommen unbeeinflußt; die am meisten Geliebte ist immer auch die Schönste für sie, die Mutter also, und dahinter reiht sich alles, was an Personen vorhanden ist, in der Reihenfolge der Liebe und der Vorlieben nach einem ästhetischen Kanon, der für niemand anderen verbindlich sein kann, und verständlich wohl auch nur für das Herz, von dessen Zuneigung die Werte bestimmt werden. Güte und Schönheit sind noch identisch. ~

Es ist wahrscheinlich, daß wir am Vorabend bei Dunkelheit in Weißenbach an der Triesting angekommen waren und vielleicht schon schlafend ins Haus getragen wurden; ohne wach zu werden. So hat man uns zu Bett gebracht. Da war natürlich gar nichts von der weißen Winterpracht für uns vorhanden gewesen. Oder hatte es erst in der Nacht zu schneien begonnen, während wir in tiefem Schlaf in den beiden für uns viel zu großen braunen Holzbetten lagen. Man lag gut darin, sie waren so breit, daß wir Arme und Beine nach allen Seiten ausstrecken konnten ohne einander zu stoßen, ja, wir hätten im Traum kreisen können wie Sonnenräder, und tatsächlich hat ja der tiefe Kinderschlaf etwas vom Kreisen im schwarzen Raum der Nacht.

So wohlig warm und weich lag man da, tief unten, geborgen. Schlug man die Augen auf, so richtete man den Blick schräg aufwärts zu den beiden Fenstern, die oben und seitlich von üppigen dunklen Stoffbahnen eingerahmt waren. Die Glasgevierte zwischen diesen schweren Portieren waren viel heller als der Raum, der auch bei Tag im Halbdunkel dämmerte. Und da: Hinter diesen hellen Lichtquadraten rieselte es dicht und gleichmäßig nieder: Schneeflocken, lautlos und langsam sinkend wie eine Liebkosung von unvergleichlich zärtlicher Berührungssehnsucht.

„Es schneit! Es schneit!“ sagte ich verzückt von diesem so ganz unerwartet eingetretenen wunderbaren Vorgang. Man weiß die Worte für die Phänomene schon, aber man weiß noch gar nicht, was die Dinge sind. „Es schneit! Es schneit! Es schneit!“ stimmte mein Bruder begeistert mit ein. Immer seliger und immer lauter sangen wir zweistimmig im selben Rhythmus unser Daseinsglück und unsere Freude hinaus: „Es schneit! Es schneit! Es schneit!“

Es war für uns so, daß die Flok- ken unseren Rhythmus sofort aufnahmen und immer dichter und leuchtender vor den Fenstern herabsanken, flaumige Riesenflocken, ein dichtes Gewebe aus lichtem Schimmern, aus Bewegung und unendlicher, nie ab-»

reißender Freude, und wir schlugen lautlos den Takt auf den weißen Daunentuchenten, als seien wir die Frau Holle, die den weißen, den lichten, den wunderbaren Schnee aus himmlischen Federbetten zur Erde schüttelte. Und wir wagten nicht, unseren Wonnegesang zu unterbrechen, so als würde damit auch das Schneewunder vergehen.

Diese Erinnerung war wie das Aufleuchten einer inneren Later- na Magica, die mir das Bildchen mit dem Untertitel „Schnee-Ekstase beim Erwachen in der Sonntagmorgenfrühe“ unerwartet ins Gedächtnis projiziert hat, dieses Diapositiv eines unendlich glücklichen Augenblicks, dessen Bewertung und Bedeutungsfindung mir nicht gelingen will… Aber: Seligkeit — braucht man dazu denn Wert und Wichtigkeit? Ist sie nicht das Ein-und-Alles einer weltraumübergreifenden Empfindung?

Aus dem autobiographischen Buch „Papierschiffchen treiben , das im Herbst 1987 im Verlag Styria, Graz, erscheinen wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung